Berliner CSD e. V. hat sein Haltbarkeitsdatum überschritten
Dirk Ludigs erklärt in seinem neuen Bewegungsmelder, warum es Zeit wird den Berliner CSD e. V. aufzulösen
Das Sprichwort sagt: Tradition ist nicht das Aufbewahren der Asche, sondern das Weitertragen der Flamme. Wenn das stimmt, dann ist der Berliner CSD e.V. nichts weiter als die Urne einer lang schon ausgebrannten Idee.
Der Skandal um den geplanten Auftritt der rassistischen und sexistischen Damendarstellerin Nina Queer im Rahmen des CSD-Fernsehgartens, den der Verein aufgrund der Corona-Krise anstelle einer Großdemonstration organisiert hat, ist nur das letzte von vielen sichtbaren Zeichen dafür, dass der CSD e.V. sein Haltbarkeitsdatum deutlich überschritten hat.
Der CSD Berlin ist ein Ergebnis von queerem Graswurzel-Aktivismus
Der Berliner CSD ist ja auch keine Idee des Vereins, sondern umgekehrt, der Verein ist eine Idee des CSD. Der CSD Berlin ist ein Kind der autonomen Schwulenbewegung. Er ist in seinem Wesen, im tiefsten seiner DNA, ein Ergebnis von queerem Graswurzel-Aktivismus. Das zeigt der kurze Blick in seine Geschichte.
1979 riefen der Schwulenaktivist Bernd Gaiser, heute Ehrenmitglied im SchwuZ e.V., und sein Freund Andreas Pareik (1982 nach einem Autonunfall verstorben) aus Anlass des 10-jährigen Jubiläums der New Yorker Stonewall Riots zum ersten CSD auf.
Bis 1998 kümmerten sich dann drei queere Berliner Vereine gemeinsam um die Ausrichtung des CSD. Im Laufe der Neunziger, im Windschatten von Loveparade und der erstarkenden schwullesbischen Bürgerrechtsbewegung, wuchs die anfangs politische Demonstration von Jahr zu Jahr zu dem typischen Spaßevent mit politischem Hintergrund, wie Berlin ihn mehr oder weniger bis letztes Jahr erlebt hat.
Erst 1998, fast zwanzig Jahre nach dem ersten Berliner CSD, wurde der CSD e.V. gegründet, weil den kleinen Vereinen die Ausrichtung der Massenveranstaltung finanziell zu heikel wurde. Die Gründung des Vereins war der Versuch, ein wegen seines Erfolgs aus dem Ruder gelaufenes Konzept einen beständigen Rahmen zu geben.
Richtig funktioniert hat das nie. Die Konstruktion war von Anfang an baufällig. Die Graswurzel wurde in ein ominöses und willkürliches CSD-Forum ausgelagert, der Vereinsvorstand übernahm das Geschäftliche. In den folgenden 15 Jahren erlebte der CSD vor allem eine Phase der Kommerzialisierung. Profitiert davon haben in erster Linie die Parteien, Verbände und Konzerne, die der ehemals politischen Demonstration von Aktivist*innen ihre Logos aufdrückten.
2014 war das Konzept de facto schon am Ende, der Verein so gut wie pleite. Seither versuchten sich mehrere Vorstände an der Sisyphos-Aufgabe, dem Party-Koloss, der sich alljährlich durch Berlin wälzt, neues politisches Leben einzuhauchen. Fußgruppen sollten dem Giganten wieder mehr politisches Gewicht geben. Funktioniert hat das allenfalls so lala.
Coronakrise hat die Schwächen des Berliner CSD e. V. offengelegt
Die Coronakrise hat die tödlichen Schwächen des Konzepts nun für alle sichtbar offengelegt. Ein mit der Situation überforderter Vorstand versuchte es mitten in der Krise allen recht zu machen und hat sich doch nur zwischen alle Stühle gesetzt.
Er solidarisierte sich mit Black Lives Matter und Fridays for Future. Letzteres stieß bürgerlichen Schwulen (weniger Lesben) wie dem LiSL-Vorsitzenden Michael Kauch vor den Kopf, dann entlarvte Nollendorfblogger Johannes Kram die Solidarisierung mit Black Lives Matter als das, was sie ist: ein klarer Fall von „Blackwashing“. (Wenn man den Begriff analog zu „Pinkwashing“ denn so gebrauchen möchte)
De facto ist der Berliner CSD e.V. schon lange nichts mehr als der Content Provider für seine Sponsoren. Eine sich selbst mehr schlecht als recht am Laufen haltende PR-Maschine für die Geldgeber, angewiesen auf politischen Input, der sich für den Verein immer schwerer akquirieren lässt. Egal, wie unglücklich der aktuelle Vorstand agiert haben mag: Jeder neue Vorstand wird an dem überkommenen Konzept so kläglich scheitern wie dieser.
Die queeren Communities sind nicht mehr unter einen Hut zu kriegen
2020 ist eben nicht 1998. Die queeren Berliner Communities sind vielfältig und den Zeiten entsprechend längst wieder hochpolitisch. Sie sind mal gutbürgerlich, mal queer-feministisch. Sie sind lesbisch, schwul, trans*, inter und non-binary, sie sind weiß und Schwarz und PoC. Sie sind hochspezialisiert und intersektional. Sie sind schon lange nicht mehr unter einen Hut zu kriegen und warum auch? Warum braucht Vielfalt einen gemeinsamen Hut?
Um in gefälligen Bildern zu bleiben: Wie oft will man ein totes Pferd neu satteln, um zu begreifen, dass es sich trotzdem nicht reiten lässt?
Zur CSD-Sasion 2020 folgten am 27. Juni Tausende dem Aufruf des Aktivisten Nasser El-Ahmad. Am 25. Juli startet um 15 Uhr der Dyke*-March vom Neptunbrunnen, um 18 Uhr eine anarchistische CSD-Demo vom Kottbusser Tor und ab 17 Uhr ist eine F*li*nt PRIDE 36 Kundgebung am Mariannenplatz geplant. Jede einzelne dieser Demonstrationen atmet mehr den Geist von Stonewall, als der offizielle CSD. Weil sie Graswurzel sind, weil sie von unten wachsen, statt von oben geplant zu werden.
Jede*r kann eine Demo anmelden
Vor einem müssen Berlins queere Communities keine Angst haben: Dass es keinen CSD mehr gibt, wenn der CSD-Verein sich auflöst, nur weil sein immer schon fragwürdiges Konzept von den Zeitläuften überrannt wurde. Im Gegenteil: Manchmal muss der tote Baumriese gefällt werden, damit das junge Grün genügend Licht bekommt, um wachsen zu können. Jede*r kann eine Demo anmelden. Jede*r kann eine Party organisieren.
Wenn die Mitglieder des CSD e.V. dem Berliner CSD etwas Gutes tun wollen, dann mögen sie auf ihrer nächsten Versammlung gemäß Paragraph 9 Absatz 2 Punkt g) ihrer Satzung die ersatzlose Auflösung des CSD e.V. beschließen. Dem Berliner CSD zuliebe.
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