LGBTIQ* in Wohnungsnot: Keine Stadt für uns?
Die Mieten steigen, mit ihnen die Profite und die Wohnungsnot. Besonders betroffen: Queers. Eine Bestandsaufnahme der Berliner Wohnsituation
Ivan hat aufgehört, die Nachrichten zu zählen, die er auf Facebook, Instagram und per Mail geschrieben hat, um eine Wohnung zu finden. Weit über hundert müssten es sein. Er ist Grafikdesigner und Anfang September 2022 aus Moskau nach Berlin geflohen. Vor der drohenden Kriegsmobilisierung, vor den homofeindlichen Gesetzen, vor der Lebensgefahr als schwuler Mann in Russland. Jetzt lebt er in Berlin und versucht, hier auch zu wohnen. Aber wie vielen anderen wird ihm genau das unmöglich gemacht: eine Wohnung zu finden. Er crasht bei Freund*innen, zieht von Couch zu Gästezimmer in die nächste Zwischenmiete. Zu Castings würde er kaum eingeladen, bisher sei er nur in zehn Wohnungen gewesen. Manche davon erwiesen sich als Täuschung, etwa bei einem Studenten, der illegal sein Wohnheimzimmer untervermieten wollte. „Ich fühle mich schrecklich mit der Situation, als hätte ich gar keinen festen Boden unter den Füßen“, sagt Ivan im Gespräch mit SIEGESSÄULE. „Ich kann mich nie vollständig auf meine Arbeit konzentrieren oder darauf, Deutsch zu lernen, weil ich ständig von den Gedanken an die Wohnungssuche eingenommen werde.“
„Wir können davon ausgehen, dass queere und trans Personen mit einem deutlich höheren Risiko leben, obdach- oder wohnungslos zu werden.“
Wie Ivan gelten alle Menschen ohne festen Mietvertrag als wohnungslos. Laut Kathrin* Schultz von Queerhome geht man in Berlin von etwa 20.000 wohnungslosen Menschen und dabei von 6- bis 10.000 Obdachlosen aus. Queerhome ist ein Projekt des Sonntags-Clubs und spezialisiert auf die Unterstützung bei Obdach- oder Wohnungslosigkeit. „Bisher gibt es in Deutschland keine offiziellen Studien, aber anhand von Zahlen aus den USA oder England können wir davon ausgehen, dass queere und trans Personen mit einem deutlich höheren Risiko leben, obdach- oder wohnungslos zu werden“, sagt Schultz. Bei queeren Menschen, die plötzlich aus ihrer Wohnung müssen, hänge dies oft mit einer Transition oder einem Coming-out zusammen. „Situationen, in denen Menschen oft ihre familiären Verbindungen verlieren oder bewusst abbrechen“, so Schultz.
LGBTIQ* sind auf sichere Räume und eine Community angewiesen, die sie häufig nur in der Großstadt finden. Ein bekanntes Phänomen. Neu ist, dass sie sich diese Räume in Berlin nicht mehr leisten können – oder sie gar nicht mehr existieren. Auch ist der Markt sehr aggressiv geworden.
Fehlende Räume und kein Netzwerk
Freya Stewart war 15, als sie Ende der 1970er von zu Hause abgehauen ist. Als sie versuchte sich bei ihrer Familie in Steglitz zu outen, wurde ihr klar vermittelt, dass das nicht geht. Bei der nächsten Busfahrt stieg sie einfach an ihrer Haltestelle nicht aus und fuhr weiter nach Kreuzberg. „Damals gab es viele Teenager wie mich, die von zu Hause abgehauen und untergetaucht sind”, sagt sie. Geld hätten sie nicht gebraucht. „Du hast immer Leute gefunden, die ansprechbar waren, mit denen du wohnen konntest. Im Sommer saßen die Menschen draußen auf Straßen und Sofas, es gab die besetzten Häuser.” Stewart selbst habe in einer Fabriketage gelebt, „viel Kunst und Party gemacht”.
Heute erlebt sie das Fehlen dieser Räume, der Gemeinschaft. Freya Stewart arbeitet als Drehbuchautorin und ist aktiv bei der Initiative Deutsche Wohnen & Co enteignen! (DWe), die sich bezahlbaren Wohnraum einsetzt. Im Jahr 2021 hat die Mehrheit der Berliner*innen im Volksentscheid der Initiative dafür gestimmt, die Berliner Bestände gewinnorientierter Unternehmen mit mehr als 3.000 Wohnungen gegen Entschädigung zu vergesellschaften. Die damalige Regierung unter Bürgermeisterin Franziska Giffey sprach sich öffentlich wiederholt gegen die Vergesellschaftung aus. Auch die aktuelle Regierung zeigt kein Interesse daran, den Volksentscheid umzusetzen.
BIPoC und geflüchtete Queers leiden besonders unter der profitorientierten Wohnungspolitik. Menschen wie Ivan. Dabei geht es für Kathrin* Schultz nicht allein darum, ob sie sich die Miete leisten können. Der Markt sei mittlerweile so dicht, dass die Wohnungsvermittlung in der Praxis oft nur über Kontakte und Mundpropaganda funktioniere. Menschen, die neu in der Stadt sind, fehlt es oft an einem Netzwerk. Deshalb wünscht sich Queerhome: Wer privat vermietet oder WG-Zimmer zur Verfügung hat, soll sich melden! Queerhome versteht sich als Scharnier zwischen Politik, der queeren Community und sozialen Strukturen. Außerdem kooperiert das Projekt mit den Bezirksämtern und hat Mitte Juli das erste queere ASOG-Wohnen eröffnet. Das sind Wohnplätze, die Menschen in Notfällen nach dem Allgemeinen Sicherheits- und Ordnungsgesetz (ASOG) durch die Bezirksämter vermittelt werden. „Bisher gab es kein spezifisches Angebot für queere Bedarfe”, sagt Schultz. Doch für das ASOG-Wohnen sind nur Menschen mit einem Anspruch auf Sozialleistungen berechtigt. Gerade bei queeren Geflüchteten gibt es also immer noch Mangel. Der Bedarf ist groß. „Eigentlich bräuchte es mehr Geld für queere Personen im Wohnbereich und mehr Einrichtungen, aber was gerade passiert, sind Kürzungen”, beschreibt Schultz.
„Eigentlich bräuchte es mehr Geld für queere Personen im Wohnbereich und mehr Einrichtungen, aber was gerade passiert, sind Kürzungen.”
Auch Deutsche Wohnen & Co enteignen vermisst das Engagement der Politik, die Situation zu verbessern. „Du kannst irgendwo eine Regenbogenflagge aufhängen, aber wenn du nicht dafür sorgst, dass Menschen, die Schutzräume brauchen, ein WG-Zimmer finden, dann ist das lediglich eine Geste”, sagt Freya Stewart und weiter: „Es haben deutlich mehr Menschen für Enteignungen gestimmt als für Kai Wegner.“ DWe sucht auch neue Leute, die mitarbeiten wollen – und richtet etwa einen queeren Stammtisch aus: „Wir setzen ein klares Signal, dass Berlin nicht bereit ist für diese Gentrifizierung.”
Ältere lesbische Frauen sind besonders von Altersarmut betroffen und werden so systematisch aus den Kiezen gedrängt. „Wir haben über Jahrzehnte in Kiezen wie Kreuzberg unsere Welt gebaut und unseren Glanz hinterlassen”, sagt Freya Stewart. „Jetzt kaufen sich reiche Leute das als Ambiente, was wir mit unserem Herzblut gebaut haben, und wir können uns das nicht mehr leisten.“ Die Freiheit, die Kiezkultur und das „Gefühl, zu Hause angekommen zu sein, wenn du in Berlin deinen Koffer absetzt”, sei schon an vielen Stellen verloren gegangen. Oder, wie Ivan seine Situation beschreibt: „Es fühlt sich an, als sei die Schwerkraft abhanden gekommen.”
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