Barrierefreie Anarchie: Performance mit chronischer Erkrankung „The Disempowered“
Mit „The Disempowered“ bricht Choreograf*in und Videokünstler*in Leo Naomi Baur bewusst Barrieren und macht das sichtbar, was oft ins Private zurückgedrängt wird: chronische Erkrankungen. Wie eine Performance ohne Live-Tanz und ohne definierte Regeln fürs Publikum aussieht, erzählt Baur im Gespräch mit SIEGESSÄULE
Wie ist die Idee zu „The Disempowered“ entstanden? Ich habe mein ganzes Leben lang getanzt, von klassischem, westlichen Ballett als kleines Kind über Hip-Hop und bis hin zu Contemporary. Ab Mitte 20 habe ich dann versucht professionell im Tanzbereich zu arbeiten. Zeitgleich wurde ich chronisch krank. Ich habe lange versucht, als gesund zu „passen“. Erst während meines Choreografie-Masters in Berlin hab ich angefangen mich als chronisch krank zu outen und damit mehr zu arbeiten. Im Rahmen dessen war „The Disempowered“ meine Abschlussarbeit.
„Das Spektrum ,chronisch krank' ist riesig. Für mich bedeutet das chronische Schmerzen, Fatigue, eine nicht-normative Belastungsgrenze und nicht-normative Verfügbarkeit.“
Inwiefern beeinflusste deine eigene chronische Erkrankung diese Arbeit? Das Spektrum „chronisch krank“ ist riesig. Für mich bedeutet das chronische Schmerzen, Fatigue, eine nicht-normative Belastungsgrenze und nicht-normative Verfügbarkeit – in einem Arbeitsbereich, der unflexibel und schnelllebig ist, der an kurze Zeitfenster gebunden ist. Da hab ich irgendwann verinnerlicht: Ich kann eigentlich gar nicht im Tanzbereich arbeiten. „The Disempowered“ ist mein Widerstand gegen diesen Gedanken und der Versuch eine Choreographie von der körperlichen Co-Präsenz von Tänzer*innen und Publikum und Choreograf*innen im Raum loszulösen. Es ist eine Arbeit, die sehr viel über vorgefertigtes Material lebt, sodass der Live-Moment mit dem Publikum quasi im Raum entsteht. Wir Performer*innen sind als Hosts zwar auch im Raum, aber liefern keine Show. Das heißt, wenn wir an dem Tag ausfallen sollten, kann die Performance trotzdem stattfinden. Das ist mein Versuch trotzdem als Choreograf*in zu arbeiten.
Aus welchen barrierefreien Elementen setzt sich die installative Performance zusammen? Die eigentliche vorher aufgezeichnete Performance ist eine Audiospur. Ich hab im Studio mit zwei Spoken-Word-Künstler*innen und einer Musikerin, die E-Cello spielt, eine Live-Performance entwickelt, die aber nicht live in Zeit und Raum ist. Als zweites Element habe ich eine Rauminstallation aus Türmen entwickelt. Das sind Türmen aus Plastikrohren, die ich in einer Art Abstellraum gesehen hatte. Da hatten die etwas ganz Magisches. Inspiriert war ich dabei von Anselm Kiefers Himmelspalästen. Genau das wollte ich kreieren: Einen Raum, der einerseits utopisch barrierefrei ist, aber gleichzeitig an eine fiktive Stadt erinnert. Diese Türme stehen inmitten einer Landschaft voller Liegemöglichkeiten, Sitzsäcken, aber auch Stühlen und Podesten. Das Publikum kann sich also aussuchen, in welcher Position es sitzen oder liegen möchte – und kann den Platz wechseln. Das dritte Element sind Videoarbeiten, die als Samples auf die Türme projiziert werden. Die Clips zeigen gewaltige Naturlandschaften, die menschenleer sind, und teilweise Tänzer*innen in offenen Räumen wie etwa U-Bahn-Stationen.
Wie hat das Publikum bisher reagiert? Viele Leute wissen nicht gleich, was sie tun sollen, und es mischen sich verschiedene Normen miteinander. Da ist die Theaternorm von Menschen, die vorsichtig in den Raum treten und sich so auch gegenüber der Installation verhalten. Bei Menschen, die nicht so sehr in dieser Blase unterwegs sind, kommen dann andere, mehr alltägliche Normen dazu. Etwa sich auf einen Sitzsack zu stürzen und den nicht mehr freizugeben (lacht). Es entsteht gewissermaßen ein Chaos, durch das Menschen freier entscheiden können.
„Es ist eine Anlehnung von anarchistischer Utopie. Im Chaos kommen unterschiedliche Normen zusammen, die sich auch gegenseitig bedingen.“
Das hat ja fast einen anarchistischen Charakter. Daher kommt auch der Titel (lacht) – inspiriert vom Roman „The Dispossessed“ von Ursula K. Le Guin. Es ist eine Anlehnung von anarchistischer Utopie. Im Chaos kommen unterschiedliche Normen zusammen, die sich auch gegenseitig bedingen. Wenn sich eine Person umsetzt, stehen danach ganz viele auf. Wenn niemand den ersten Schritt macht, ist die Hürde größer.
SIEGESSÄULE präsentiert „The Disempowered“
09.+11.01., 19:00, 12.01., 16:00, Sophiensæle
tanztage.sophiensaele.com/the-disempowered
Tanztage Berlin 2025
09.–25.01., Sophiensæle
tanztage.sophiensaele.com
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