„Baldiga – Entsichertes Herz“ – ein Blick ins schwule West-Berlin
Kein anderer hat die schwule Szene, die Tuntenkultur und den Underground im West-Berlin der 80er-Jahre so intensiv eingefangen wie Jürgen Baldiga. Sein radikaler Umgang mit der eigenen Sexualität wie auch mit seiner Aidserkrankung ist bis heute beeindruckend. Der Dokumentarfilm „Baldiga – Entsichertes Herz“ versucht, seinen vielen Facetten gerecht zu werden
Wer dieses Foto im Januar 1994 in der SIEGESSÄULE gesehen hat, wird es nicht vergessen haben: ein Selbstporträt mit roter Clownsnase. Der Blick: starr und ein wenig ängstlich. Die blutunterlaufenen Augen sind fast schwarz und scheinen einen direkt anzuschauen. Jürgen Baldiga hat sich immer wieder selbst fotografiert, gerne auch nackt. Auch dann noch, als sein Körper mehr und mehr von der Aidserkrankung gezeichnet war. Das Bild mit der Clownsnase hatte er ausgewählt, um der Welt mit größtmöglicher Nüchternheit mitzuteilen: „Ich bin tot“.
„Kunst und Ficken — das ist mein Leben. Ich liebe mein Leben. Es ist wie ein Trip. Ein ewiger.“
Die von ihm selbst gestaltete Todesanzeige erzählt bereits viel über das Selbstverständnis des im Alter von nur 34 Jahren verstorbenen Performancekünstlers, Lyrikers, Musikers und Fotografen Jürgen Baldiga. Seine Kamera diente ihm nicht nur zur Dokumentation der Menschen in seinem eigenen Lebensumfeld, sondern auch zur Selbstinszenierung: eine stolze Feier der schwulen Sexualität und des Selbstbewusstseins – unverstellt, ehrlich und kompromisslos bis zur Schmerzgrenze. „Kunst und Ficken — das ist mein Leben. Ich liebe mein Leben. Es ist wie ein Trip. Ein ewiger“, notierte Baldiga in seinem Tagebuch.
Kunst, Sex und Todesangst
5.000 Fotografien sind in diesem kurzen Leben entstanden; ein Werk, das sich ästhetisch und künstlerisch mit jenen von Nan Goldin und Mark Morrisroe vergleichen ließe, aber längst noch nicht die Anerkennung erhalten hat, das es verdient. Dass sich dies ändern wird, dazu wird sicherlich der Film von Markus Stein (Regie) und Ringo Rösener (Drehbuch) beitragen. „Baldiga – Entsichertes Herz“ ist der Versuch, nicht nur Baldigas Lebensweg vom Ruhrpott in die Westberliner Kunst- und Alternativszene nachzuerzählen. Die Dokumentation will zugleich die Atmosphäre im West-Berlin der Vor- und Nachwendejahre, sowie den Einbruch der Aidskrise auch für ein jüngeres, heutiges Publikum erlebbar und die Besonderheit von Baldigas Kunst verständlich machen.
Es ist bereits der zweite Dokumentarfilm, der sich mit dem Fotografen auseinandersetzt. Jasco Viefhues hatte in seinem komplett selbst finanzierten Film „Rettet das Feuer“ (2019) den Fokus vor allem auf Baldigas Stellung innerhalb der West-Berliner Schwulenszene und auf die Bedeutung queerer Geschichtsschreibung gelegt. „Baldiga – Entsichertes Herz“ setzt den Schwerpunkt auf die biografischen Stationen und den künstlerischen Werdegang.
„Baldiga ist sehr offen und schonungslos mit sich selbst, mit seiner Sexualität und dann auch mit seiner Aidserkrankung umgegangen.“
Regisseur Markus Stein war durch den Drehbuchautor Ringo Rösener („Unter Männern – Schwul in der DDR“) auf Baldiga aufmerksam geworden. „Was mir da um die Ohren geflogen ist, hat mich dann regelrecht umgehauen“, schildert Stein im Interview diese erste intensive Auseinandersetzung mit dem Nachlass. „Baldiga hat mit seiner Kamera ja nicht nur einen sehr genauen Blick auf die Berliner Subkultur geworfen, sondern ist in seinem Tagebuch auch sehr offen und schonungslos mit sich selbst, mit seiner Sexualität und dann auch mit seiner Aidserkrankung umgegangen.“
Auszüge aus Baldigas unveröffentlichtem Tagebuch
Sein handschriftlich verfasstes Tagebuch, mit vielen tausend Seiten, ist ein zeitgeschichtlich und auch literarisch bedeutsames Dokument, das zwar editiert, aber bislang leider immer noch nicht veröffentlicht wurde. Für „Baldiga – Entsichertes Herz“ ist es ein elementarer Bestandteil und ermöglicht – aus dem Off eingesprochen beziehungsweise als Text eingeblendet – oft beklemmend intime und schmerzlich berührende Einblicke in Baldigas Gefühlsleben, in seine Auseinandersetzung mit Kunst, Leben, Sex und Liebe und – im Zuge der Aidskrise – mit Verlust, Todesangst wie mit dem dadurch ausgelösten Zorn und Überlebenswillen. Der Film collagiert – in Kapiteln mit Überschriften wie „Jürgay“, „Eros“ „Triebe“ und „Tunten“ geordnet – Baldigas Notate und Fotografien mit Super-8-Filmen und Musikaufnahmen aus seinem Nachlass. Ergänzt ist dieses dokumentarische Material um nachgestellte Szenen, die vor allem Atmosphäre zu vermitteln suchen – sei es auf Partys im SchwuZ, sei es die Tristesse auf den Krankenhausfluren der Aidsstation.
Gewichtiger sind jedoch die eingefügten Interviews mit Weggefährt*innen und Zeitzeug*innen, wie etwa Baldigas Schwester Birgit oder den Urgesteinen der Polittuntenszene, Timo Lewandovsky (Tima die Göttliche) und Bernd Boßmann (Ichgola Androgyn). Bei einem so eng mit der West-Berliner Schwulenszene vernetzten Menschen wie Jürgen Baldiga ist nicht nur interessant, wie die Interviewten sich an ihn erinnern, sondern auch, wer nicht im Film vorkommt. „Wir haben in der Tat einige Absagen bekommen“, erklärt Markus Stein. „Einige wollten nicht darüber sprechen, weil es ihnen immer noch zu nahe geht – einerseits wegen ihrer eigenen Beziehung zu Jürgen, der auch nicht immer ganz leicht war, und andererseits aufgrund der traumatisierenden Erfahrungen in dieser Zeit, als Aids noch eine tödliche Erkrankung war.“ Viele der Interviewten, sagt Markus Stein, seien erst jetzt dazu in der Lage, frei über diese Zeit reden zu können. Dazu gehört sicherlich auch Baldigas letzter Lebenspartner Ulf.
Mit ihm gemeinsam konnte Baldiga sich kurz vor seinem Tod noch einen großen Wunsch erfüllen: eine Reise nach New York. Die Aufnahmen, die dort entstanden, lassen das Glück und den künstlerischen energetischen Rausch erahnen, den Baldiga dort erlebte. Und machen umso mehr deutlich, welches Werk von ihm womöglich noch zu erwarten gewesen wäre.
SIEGESSÄULE präsentiert:
Filmscreening: „Baldiga – Entsichertes Herz“,
22.11., 20:00, SchwuZ
Baldiga – Entsichertes Herz,
D 2024, Regie: Markus Stein
Ab 28.11. im Kino
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