Architektur queer gedacht: Häuser der Vielfalt bauen

Wohnraum – umkämpft wie derzeit kaum ein anderes Gut. Immerhin entstehen in Berlin immer mehr Wohnprojekte für queere Menschen. Ob die Sanierung des Tuntenhauses, der Anbau beim Lebensort Vielfalt oder das lesbische Wohnprojekt von RuT in Mitte, all das soll helfen, Menschen ein würdiges und sicheres Zuhause zu geben. Aber Bauen für die Bedürfnisse der LGBTIQ*-Community – wie geht das überhaupt?
Dass die Schwulenberatung Berlin einmal unter die Bauherren gehen würde, hatte sich das Team bei der Gründung 1981 sicher nicht träumen lassen. 2012 wurde in der Niebuhrstraße 59/60 in Charlottenburg ihr erstes gemeinschaftliches und generationsübergreifendes Wohnprojekt, der „Lebensort Vielfalt“, mit 24 Wohnungen eröffnet.
Der 1930er-Jahre-Bau war vorher eine bezirkliche Einrichtung und wurde komplett umgebaut. 2020 folgte LOVO (Lebensort Vielfalt am Ostkreuz), ein Neubau für 30 Menschen mit Betreuungsbedarf, zum Teil queere Geflüchtete. Der im Sommer 2023 fertiggestellte Neubau Lebensort Vielfalt am Südkreuz in der Gotenstraße 50/51 ist noch eine Nummer größer. 69 Wohnungen, eine Pflege-Wohngemeinschaft mit acht Zimmern, zwei therapeutische WGs sowie eine Kita befinden sich hier.

„Es gibt keine queere Architektur. Das Haus Vielfalt ist ein Ort, an dem sich niemand erklären muss, das ist das Wesentliche.“
Das queere Mehrgenerationenhaus wurde kürzlich mit dem Publikumspreis des Bundes Deutscher Architektinnen und Architekten (BDA) ausgezeichnet. Und es geht weiter: Derzeit wird im Garten der Niebuhrstraße 59/60 ein weiteres Haus für Menschen aus der LGBTIQ*-Community gebaut. „Bei uns stehen insgesamt eintausend Leute auf der Warteliste für eine Wohnung“, erklärt Marcel de Groot, Geschäftsführer der Schwulenberatung. Die Wohnprojekte seien Orte für Menschen, die besonderen Schutz brauchen und die ohne Angst vor Ausgrenzung leben möchten. „Bei vielen ist der Kontakt zur Familie nicht vorhanden oder nicht gewünscht. Wir wollen eine Art Dorfgemeinschaft aufbauen, wo sich die Leute gegenseitig unterstützen können.“
Gehen Architekt*innen an queere Wohnprojekte anders heran? „Nein“, sagt Ulrich Schop von roedig.schop architekten, der sowohl den Umbau der Niebuhrstraße als auch den Neubau in der Gotenstraße geplant hat. Obwohl ihn als schwulen Mann das Thema schon sein ganzes Berufsleben lang begleitet und er als Abschlussarbeit seines Studiums sogar ein schwul-lesbisches Wohnhaus entworfen hat, sagt er: „Es gibt keine queere Architektur. Das Haus Vielfalt ist ein Ort, an dem sich niemand erklären muss, das ist das Wesentliche. Doch das ist eine Frage der Nutzung, architektonisch lässt sich das kaum beeinflussen.“ Nicht einmal den besonderen Sicherheitsaspekt will Schop als queerspezifisch gelten lassen: „Sicherheit ist ein ganz elementares Wohnbedürfnis und spielt für alle eine Rolle.“ Eine Ausnahme sei die Kunst am Bau in der Gotenstraße: Die vier Flure im Haus, die von Künstler*innen gestaltet worden sind, erzählen queere Geschichten.
„Neben dem Sicherheitsempfinden ist Vereinsamung, gerade in der queeren Community, ein Aspekt, für den wir passende architektonische Antworten gesucht haben."
Die Architekt*innen Wenke Schladitz und Christoph Wagner, die den Erweiterungsbau in der Niebuhrstraße 59/60 errichten, finden hingegen, dass Architektur durchaus queerspezifisch sein kann. „Neben dem Thema Sicherheitsempfinden ist Vereinsamung, gerade auch in der queeren Community, ein Aspekt, für den wir passende architektonische Antworten gesucht haben", so Christoph Wagner. Wenke Schladitz ergänzt, dass es eine Gratwanderung sei, denn auf der einen Seite wollen sich die Wohnorte nicht verstecken, im Gegentei. Auf der anderen Seite müsse aber dem Bedürfnis nach Sichterheit Rechnung getragen werden.
Behutsame Sanierung im Tuntenhaus
„Bauen ist ohnehin diverser geworden“, sagen Frank Schönert und Nanni Grau. Flexibler Wohnraum für fluide Lebensphasen statt Standardwohnungen sei der Trend. Die beiden haben ihr Architekturbüro Hütten & Paläste in der Kastanienallee, direkt gegenüber vom Tuntenhaus, mit dessen Sanierung sie die Genossenschaft SelbstBau als neue Eigentümerin beauftragt hat. Es ist ihr erstes Projekt für die queere Community, aber sie haben viel Erfahrung mit dem Planen und Bauen für unterschiedliche Gruppen und Lebensentwürfe. „Wir gehen grundsätzlich wertschätzend und neugierig an ein Projekt heran und versuchen herauszufinden, was diese Gruppe ausmacht und wie wir das architektonisch umsetzen können“, erklärt Nanni Grau. Die Aufgabe, das Tuntenhaus zu sanieren, finden sie spannend. Es geht vor allem um eine energetische Sanierung, außerdem müssen die Elektrik und die Brandschutztechnik erneuert werden.
Klar ist, dass die Bewohner*innen, die ihr Haus in einem fulminanten Kampf vor dem Verkauf an einen privaten Investor gerettet haben, eine Zeit lang ausziehen müssen. Das ist für die Tunten ebenso akzeptabel wie die Tatsache, dass ihre Mieten steigen werden – wenn auch moderat. Ein glatt saniertes Haus in Pastell soll die Kastanienallee 86 auf keinen Fall werden. Im Idealfall soll das Haus nicht viel anders aussehen als vorher, sagt Frank Schönert. „Wir wollen den besonderen Charme des Hauses erhalten, aber es gibt natürlich auch Vorgaben vom Denkmalschutz und vom Brandschutz.“ Die Tunten haben im Laufe der Jahrzehnte im Haus viel selber umgebaut, sodass sie nun als Groß-WG mit Gemeinschaftsküchen und -bädern zusammenwohnen. „Das weiterzudenken ist eine spannende Aufgabe“, findet Frank Schönert.
„Wir machen das ja für die Tunten, es geht um ihre Lebensform.“
Dass die Bewohner*innen bei der Planung mit einbezogen werden, ist für die beiden Architekt*innen selbstverständlich: „Wir machen das ja für die Tunten, es geht um ihre Lebensform.“ Der Bedarf an weiteren Wohnprojekten ist riesig – und die Konkurrenz um geeignete Grundstücke entsprechend groß. Das zeigt die Geschichte von Europas erstem Lesbenwohnhaus, das derzeit direkt neben dem Rathaus Mitte gebaut wird
Machtstrukturen bei Wohneigentum
Jutta Brambach und die anderen Frauen von RuT (Rad und Tat – Offene Initiative Lesbischer Frauen e. V.) haben viele Jahre lang dafür gekämpft: 72 bezahlbare, über- wiegend barrierearme Wohnungen entstehen hier, davon die Hälfte WBS-gebunden (Wohnberechtigungsschein). Im Erdgeschoss ist neben einem öffentlichen Kiezcafé ein queeres, inklusives soziokulturelles Zentrum geplant. Doch in den Stolz über „ihr“ Haus mischt sich auch Enttäuschung. Eigentlich wollte RuT die Eigentümerin ihres Hauses werden. 2017 beim Konzeptverfahren um die landeseigenen Grundstücke auf der Schöneberger Linse in der Gotenstraße hatte RuT zunächst den Zuschlag erhalten. Doch die Schwulenberatung hatte Verfahrensfehler entdeckt und legte Einspruch ein. Am Ende bekam sie den Zuschlag stattdessen. RuT ging leer aus – ein Skandal in der Community. Den Frauen gelang es in der Folge nicht, ein neues Haus zum vergleichbaren Preis zu finden. Schließlich gingen sie eine Kooperation mit der städtischen Wohnungsbaugesellschaft Mitte ein. Die baut das Haus nun in ihrem Block als Nachverdichtung. RuT hat ein Vorschlagsrecht bei der Belegung. Wie das dann konkret läuft, müsse man abwarten. Für Jutta Brambach zeigt der Vorgang: „Frauen haben weniger Geld und besitzen seltener Wohneigentum, warum sollen diese Machtstrukturen in der queeren Community anders sein?“
Folge uns auf Instagram
#Lebensort Vielfalt#Schwulenberatung#Vereinsamung#Sicherheit#Queeres Wohnen#Architektur#RuT e.V.#Queere Architektur#Tuntenhaus#Wohnprojekt