Gesundheit

Apotheken in der Krise: Was heißt das für die Community?

4. Dez. 2023 Lea Siebarth
Bild: Catrin Schmitt
Tina Töllner, Inhaberin der N/F/S-Apotheken

Die Zahl der Apotheken geht in ganz Deutschland rasant zurück. Interessensverbände sprechen von einem „historischen Tiefstand“, Apotheker*innen streiken und organisieren regionale Protesttage. Was hat es damit auf sich? Und was bedeutet das für die queere Community und die HIV-Versorgung in Berlin? Lea Siebarth ist diesen Fragen nachgegangen

Hier in Berlin sind Apotheken aus dem Stadtbild kaum wegzudenken. Ob die Apotheken im Nollendorfkiez, deren Stände auch beim Lesbisch-Schwulen Stadtfest nicht fehlen dürfen, oder die gemeine Wald-und-Wiesen-Apotheke „um die Ecke“ – manchmal wirkt es, als könnte man sich vor Apotheken kaum retten. Apotheken sind wohl die erste und am häufigsten genutzte Schnittstelle des öffentlichen Lebens und des Gesundheitssystems. Gerade auch im Hinblick auf HIV-Therapie, Aufklärung und Prävention stellen Apotheken eine wichtige Anlaufstelle für queeres Leben dar und das mit Fürsorge, Professionalität und Integrität.

Doch der Schein trügt: Die Apothekenzahl in Deutschland sinkt – und das schneller denn je. Wer Apotheken nur in der Erkältungszeit oder im akuten Fall aufsuchen muss, den mag das überraschen, aber das deutsche Apothekenwesen steckt in einer Krise. In diesem Sommer gingen Pharmazeut*innen auf die Straße und organisierten Streiks. Auch im November blieben Apotheken an regional organisierten Protesttagen geschlossen. Geschätzt schließt alle 17 Stunden eine Apotheke. Es ist drastisch genug, dass inzwischen von einem regelrechten Apothekensterben gesprochen wird. Allein das erste Halbjahr 2023 verzeichnete einen Verlust von 238 Apotheken, wie der Deutsche Apothekerverband e. V. (DAV) im August mitteilte.

„Allein das erste Halbjahr 2023 verzeichnete einen Verlust von 238 Apotheken.“

Zwar sind die Auswirkungen des Apothekensterbens in Berlin noch nicht für alle spürbar, die Sorge um die Zukunft der Arzneimittelversorgung ist jedoch mehr als berechtigt. Geradeheraus gefragt: Was ist bei den Apotheken los?

Viele Apotheken stehen vor finanziellen Herausforderungen. Die steigenden Miet- und Energiekosten können nicht mehr ausgeglichen werden. Auch Medikamente werden teurer. „Ein großes Problem ist die seit über 10 Jahren fehlende Honoraranpassung bei verschreibungspflichtigen Arzneimitteln“, so Christian Winhausen, Leiter der Apotheke Witzleben in Charlottenburg-Wilmersdorf.

Die Fixpauschale, die Apotheken für jedes auf Rezept abgegebene Medikament von den Krankenkassen erhalten, ist gesetzlich festgelegt. Sie wurde trotz Corona-Pandemie, Energiekrise und Inflation nicht angepasst. Ganz im Gegenteil wurde der Abschlag, den Apotheken pro Medikament an die Krankenkassen zahlen, Anfang dieses Jahres sogar noch erhöht. Die einzige Möglichkeit, die finanziellen Defizite auszugleichen, läge also darin, die Preise von nicht verschreibungspflichtigen Medikamenten und Produkten, wie zum Beispiel Ibuprofen oder Kosmetika, zu erhöhen. Die steigenden Kosten müssten also von den Patient*innen ausgeglichen werden. Und selbst in Gegenden mit kaufstarken Patient*innen ist auch das oft nicht ausreichend.

Personal- und Zeitmangel

Darüber hinaus macht der Fachkräftemangel auch vor der Apothekenbranche nicht halt. „Es ist inzwischen so, dass wir uns als Apotheke bei den Fachkräften bewerben müssen, nicht andersherum“, sagt Matthias Phillip, Leiter von Axels Apotheke in Kreuzberg, die einen HIV-Schwerpunkt hat. Er sei sehr froh, zurzeit ein gutes und festes Team zu haben, das sei aber lange Zeit nicht der Fall gewesen. Eine Arbeitsstelle in der Industrie ist für Pharmazeut*innen oft deutlich attraktiver und lukrativer als die in der öffentlichen Apotheke. Diese ist zunehmend belastend und von Stress geprägt. Der Mangel an Zeit ist laut Tina Töllner, der Inhaberin der N/F/S-Apotheken mit drei Standorten in Mitte, einer der größten Problemfaktoren. Die eigentliche Aufgabe von Apotheken, nämlich die Patient*innen zugewandte pharmazeutische Beratung, bleibt immer mehr auf der Strecke. Das liegt daran, dass die Mitarbeitenden mit der Dokumentation, dem Ausbügeln von Rezeptfehlern und der Recherche nach lieferbaren Arzneimitteln beschäftigt sind.

„Es ist inzwischen so, dass wir uns als Apotheke bei den Fachkräften bewerben müssen, nicht andersherum.“

Ob die zunehmende Digitalisierung und das E-Rezept, das Apotheken seit September 2022 in ganz Deutschland einlösen und mit den Krankenkassen abrechnen können, den bürokratischen Aufwand zumindest ein wenig verringern könnten? „Wenn es funktioniert, funktioniert es gut. Wenn aber einmal etwas auf dem E-Rezept nicht stimmt, ist es fast ein Staatsakt, es zu berichtigen“, so Töllner. Lieferengpässe und Nichtverfügbarkeit von Medikamenten stellen eine weitere Belastung und Bedrohung der flächendeckenden Arzneimittelversorgung dar. Eine zeitliche Belastung für das Apothekenpersonal, das natürlich immer bemüht ist, Alternativen zu finden, aber auch eine riesige Belastung für Patient*innen, falls es mal keine Alternative gibt.

HIV-Versorgung ist sicher

Eine gute Nachricht: Die Versorgung mit HIV-Medikamenten sehe er aktuell nicht bedroht, so Christian Winhausen, der eine HIV-Schwerpunkt-Apotheke betreibt. Allerdings bemerke auch er die Zunahme von Anfragen zum Versand von HIV-Medikamenten. Apotheken, die für die Patient*innen direkt erreichbar wären, können die Medikamente anscheinend nicht beschaffen, sodass sich Patient*innen an weiter entfernte Apotheken wenden und sich dort nach Versandoptionen erkundigen. Das könnte daran liegen, dass die Medikamente im Einkauf bereits sehr teuer sind und das für finanziell eingeschränkte Apotheken eine zu große Belastung ist. Wenn weniger Geld da ist, können die Apotheken auch weniger einkaufen, weshalb sich die Patient*innen eher an größere und kaufstärkere Apotheken wenden. Die Schere zwischen großen und kleinen Apotheken geht tendenziell immer weiter auseinander.

„Es steckt so viel Potenzial in der Zusammenarbeit von Ärzt*innen und Apotheker*innen.“

Deutschland ist durch das Rabattvertragssystem der Krankenkassen kein attraktiver Markt für Arzneimittelhersteller*innen, die ihre Produkte dann eher in anderen Ländern vertreiben. Das ist nur einer der Gründe für die Arzneimittellieferengpässe. Neben diesen konkreten Problemen geht es auch allgemein um den Stellenwert der Apotheke im deutschen Gesundheitssystem. „Es steckt so viel Potenzial in der Zusammenarbeit von Ärzt*innen und Apotheker*innen“, sagt Töllner. „Diese Zusammenarbeit müsste mehr gefördert und genutzt werden.“ Es wird sich mehr Wertschätzung vonseiten der Politik gewünscht. „Es wäre schön, wenn Apotheken mehr zugetraut werden würde, wenn man sich mehr auf Augenhöhe begegnen könnte“, wünscht sich Carola Lubomierski, Filialleiterin der Zieten Apotheke Wedding*.

Die Politik hat inzwischen auf den Notstand der Apotheken reagiert. Das Apothekenwesen soll liberalisiert werden. Die Anzahl an Filialapotheken, die ein*e Inhaber*in betreiben darf, soll steigen. In Zukunft müssen demnach nicht mehr alle Apotheken über ein Labor zur Medikamentenherstellung verfügen oder Notdienste anbieten. Auch muss nicht in jeder Apotheke ein*e approbierte*r Apotheker*in vor Ort sein – sofern die Möglichkeit zu einer Beratung per Videocall gegeben ist. Diese geplante Liberalisierung des Apothekenwesens erntete Kritik. Keine der Maßnahmen spräche die derzeitige, bereits bestehende Problematik an. Darüber hinaus wird befürchtet, dass dies der erste Schritt einer Entwicklung von der inhaber*innengeführten Apotheke hin zum Großkonzern oder Franchise-Unternehmen sein könnte. „Was früher der kleine Elektroladen um die Ecke war, ist heute der Media Markt in der nächstgrößeren Stadt“, sagt Töllner. Das gleiche Schicksal könnte auch den Apotheken blühen. Es bleibt abzuwarten, was die Zukunft bringt.

* In der Printversion dieses Artikels (SIEGESSÄULE 12/2023) steht, dass die Zieten Apotheke Wedding einen HIV-Schwerpunkt hat. Das ist falsch. Wir haben den Fehler korrigiert und bitten um Entschuldigung.

Apotheke Witzleben
Kaiserdamm 26
14057 Berlin

Axels Apotheke
Rudi-Dutschke-Str. 8
10969 Berlin

N/F/S-Apotheken
Invalidenstr. 114
Invalidenstr. 157
Chausseestr. 42
10115 Berlin

Zieten Apotheke Wedding
Gerichtstr. 31
13347 Berlin

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