Anohni: „Die faschistische Glut wird wieder neu entfacht“
Die queere Ikone und britische Wahl-New-Yorkerin Anohni meldete sich nach siebenjähriger Album-Pause mit ihrem gefeierten Werk „My Back Was A Bridge For You To Cross“ zurück. SIEGESSÄULE-Autor Marcel Anders traf die 51-Jährige zum Interview, um über ihr Album, die Anfeindungen gegen LGBTIQ* und ihre Muse Marsha P. Johnson zu sprechen
Dein neues Album erinnert an „What's Going On“, den Soul-Klassiker von Marvin Gaye aus dem Jahr 1971. Geht es dir auch um dieselbe Frage, wie ihm – nämlich: Was passiert hier? Definitiv! „What's Going On“ ist ein Album, das mich sehr geprägt hat. Einfach wegen seiner direkten Sprache und der Weltsicht, die sich dahinter verbirgt. Er hat auf sehr romantische Musik zurückgegriffen, um wirklich heftige politische Statements abzugeben. Und er hat sich dieser Form bedient, um die Texte noch stärker zu betonen und sie quasi zu intensivieren.
Natürlich war er da nicht der erste und der einzige. Nina Simone ist in eine ähnliche Richtung gegangen. Aber niemand war so systematisch wie Marvin: Er hat die zehn Song des Albums genutzt, um ein Thema nach dem anderen anzuschneiden und seine Sicht der Welt zu präsentieren. Das greife ich auf: Ich will zeigen, was seitdem passiert ist, wo wir heute stehen und dieselben Fragen stellen, wie er. Denn viel von dem, worüber Marvin gesungen hat, hat sich auf eine Weise entwickelt, die weit über die menschliche Vorstellungskraft hinausgeht. So etwas wie Angst vor Umwelt-Katastrophen gab es damals nicht. Doch wo sind wir jetzt? Beim Kollaps der Ozeane, der großen Korallenriffe und der Wälder. Würden wir uns ein bisschen zusammenreißen, könnten wir noch etwas ändern. Nur: Wir vermögen uns das gar nicht vorzustellen. Und ich höre auch kein Staatsoberhaupt, das eine überzeugende Vision für die Zukunft hätte.
„Diesen Leuten geht es gar nicht so sehr um Schwule, Lesben oder trans* Personen. Sie brauchen einfach einen Sündenbock."
Stattdessen kämpfen erzkonservative Politiker*innen und religiöse Fundamentalist*innen lieber gegen die LGBTIQ*-Gemeinde, wie du es in den Stücken „Go Ahead“ und „Scapegoat“ beschreibst. Ist das – zumindest in den USA – reiner Wahlkampf? Die Ablenkung von den wichtigen Problemen unserer Zeit? Ja, das ist Teil einer üblen Kampagne, um die Menschen von größeren Machenschaften abzulenken. Eine toxische und hinterhältige Strategie. Denn: Diesen Leuten geht es gar nicht so sehr um Schwule, Lesben oder trans* Personen. Sie brauchen einfach einen Sündenbock, um frustrierte Menschen abzulenken, die Stress im eigenen Leben haben und nicht wissen, wohin damit. Eben, weil es viel einfacher ist, jemandem die Schuld für irgendetwas zu geben, als sich ernsthaft mit seinen Problemen zu befassen. Es scheint, als ob verrückte fundamentalistische Rechte wie Pilze aus dem Boden schießen. Als ob die faschistische und nationalistische Glut wieder neu entfacht wird. Und als ob da ein Blutrausch – ein Verlangen nach Auslöschen – herrscht. Wir kehren zurück zu einer Denkweise, die wir längst überwunden geglaubt hatten.
Was lässt dich sagen, dass eine feministische Revolution unseren Planeten retten könnte? Sind weibliche Führungskräfte und Staatsoberhäupter besser – wie Neuseeland und Finnland zeigen? Ich denke, Regierungen, die zu mehr als 50 Prozent aus Frauen bestehen, haben ein riesiges Potential. Sie könnten für eine neue Form von Politik sorgen, wie wir sie dringend bräuchten. Gerade durch erfahrene Mütter, die ein hohes Maß an Fürsorglichkeit besitzen. Je mehr an der Regierungsarbeit beteiligt wären, desto besser.
Sind Stücke wie „It Must Change“ dann einfach eine Erinnerung an das, was wichtig ist? Oder steckt dahinter ein regelrechtes Manifest? Eine Art: Ihr müsst dies und das tun? Ich fühle mich nicht qualifiziert genug, um eine Anleitung zu geben, was man wie zu tun hat. Ich teile nur die Recherche-Erkenntnisse, die ich als Künstlerin und in meiner Beziehung zur Außenwelt gemacht habe.
„Mein gesamtes Leben dreht sich darum, Marsha P. Johnson zu ehren."
Was hat es mit dem Artwork und dem Albumtitel „My Back Was A Bridge For You To Cross” auf sich? Ist das eine Hommage an die New Yorker trans* Pionier*innen der 60er und 70er – Leute wie Marsha P. Johnson, die auch auf dem Cover abgebildet ist? Mein gesamtes Leben dreht sich darum, Marsha P. Johnson zu ehren. Nicht umsonst tragen all meine Projekte ihren Namen. Es ist eine Geste, um ihr Andenken zu bewahren – selbst zu einer Zeit, als sie nicht so bekannt war, wie sie es jetzt ist. Außerdem steht der Albumtitel für eine Art Durchlässigkeit zwischen den Generationen. Denn: Ich wurde in dem Glauben erzogen, dass ich unabhängig von allen bin, die vor mir waren – und die auf mich folgen werden. Aber je älter ich werde, desto bewusster wird mir, dass ich alles in mir vereine, was vor mir war. Das meint „My Back Was A Bridge For You To Cross”.
Dein Album geht Hand in Hand mit der Ausstellung „She Who Saw Beautiful Things“ im Willet-Holthuysen-Haus in Amsterdam, einem Gebäude aus dem 17. Jahrhundert. Dabei konntest du dir nicht verkneifen, deine Werke auch in der Dauerausstellung zu platzieren. Etwa Fotografien von nackten Frauenkörpern zwischen historischen Exponaten. Wie subversiv ist das? Ich hatte eigentlich nicht vor, subversiv zu sein – sondern wollte dem Haus nur frische Energie verleihen. Als ich da ankam, war alles verstaubt und die Luft war abgestanden, weil die Fenster nie geöffnet wurden. Also habe ich darauf bestanden, durchzulüften, ein paar Stühle umzukippen und einige meiner Werke aufzuhängen. Einfach, um alles ein bisschen tanzen zu lassen. Eine Idee aus dem japanischen Butoh-Theater – die Objekte tanzen lassen.
Wie geht es bei dir weiter? Momentan liegt mein Fokus darauf, das Album vorzustellen und seine Geschichte zu erzählen. Sobald ich damit durch bin und wieder klar denken kann, werde ich mich in aller Ruhe neuen Projekten widmen, die hoffentlich genauso viel Zustimmung erfahren, wie diese Ausstellung und die neuen Songs.
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