Anita Berber: Spiegelbild der exzentrischen Zwanzigerjahre
Seit den 1980ern wird die skandalumwitterte „Tänzerin des Lasters und der Ekstase“ Anita Berber (1899–1928) wiederentdeckt. Rosa von Praunheim widmete ihr einen Film, zuletzt gab‘s in Wien im Photoinstitut Bonartes eine große Ausstellung über sie. Jetzt hat der Journalist Armin Fuhrer eine Biografie als Zeitportät der frühen Zwanziger Jahre vorgelegt
„War sie eine queere Vorkämpferin?“, fragt Armin Fuhrer am Ende seiner neuen Anita-Berber-Biografie. Und antwortet: „Zweifellos war sie der erste Star, der sich offen lesbisch oder bisexuell in der Öffentlichkeit präsentierte, mehr noch: der seine Queerness quasi zum Geschäftsmodell machte.“ Das kurze und turbulente Leben dieser 1899 in Leipzig geborenen Künstlerin, die zu Beginn des Ersten Weltkriegs mit ihrer Mutter nach Berlin zog und dort die radikalen gesellschaftlichen und politischen Umbrüche hautnah miterlebte, hat bis heute nichts von seiner Faszination verloren. Denn es spiegelt wie kaum ein anderes die exzentrische Zeit der frühen Zwanziger Jahre, mit Revolution, Chaos, sexueller Befreiung, Inflation, Verzweiflung, Vergnügungssucht – und Absturz.
Expressionistische Tänzerin, skandalöse Auftritte & Modeikone
Nach ihrem frühen Tod an Tuberkulose 1928 marschieren bei ihrer Beerdigung auf dem St.-Thomas-Friedhof in Neukölln „neben prominenten Filmregisseuren die Huren der Friedrichstraße“ auf, man sieht „Strichjungen“ und „berühmte Künstler neben Bar-Mixern, Herren in Zylindern neben den bekanntesten Transvestiten Berlins“, schreibt Fuhrer. Insgesamt schildert er in 19 Kapiteln die Karriere der Frau, die eigentlich als expressionistische Tänzerin künstlerisch ernstgenommen werden will. Aber Nacktauftritte mit Programmen wie „Tänze des Lasters, des Grauen und der Ekstase“ sorgen vor allem für Skandale. Fuhrer zitiert ausgiebig aus Zeitungskritiken und Leser*innenbriefen, die beklagen, Berber würde mit schamlosen „sinnlich aufreizenden Posen“ die „Seele des Volkes“ vergiften – „vor allem der Jugend“. Immer wieder schreitet die Polizei ein, nicht nur in Berlin, sondern überall wo Berber auftritt. Teils tut sie das mit ihrem offen schwulen Bühnenpartner Sebastian Droste (mit ihr auf dem Buchcover zu sehen). Droste ist ein junger Mann aus reichem Haus, der seine Gutbürgerlichkeit unbedingt abstreifen will und sich einem exzessiven Bohemienleben hingibt, das sogar Berbers in den Schatten stellt. Das Kapitel zu Droste und seinen späten Jahren in New York – wo er für reiche Amerikaner*innen dekadente Sexpartys organisiert – sind faszinierend. Auch Droste stirbt jung an Tuberkulose, weil seine Gesundheit genau wie die von Berber von Drogenexzessen ruiniert ist.
Berber tanzt mit verschiedenen Partnern quer durch Europa, aber auch in Bagdad, Alexandria, Beirut usw. Nicht gerade Orte, an denen man solche Auftritte erwarten würde. Daneben macht sie eine beachtliche Filmkarriere, nachdem sie den Regisseur Richard Oswald kennenlernt, der sie 1919 u. a. in „Anders als die Andern“ besetzt. Auch in Fritz Langs legendärem „Dr. Mabuse“ ist sie 1922 zu sehen, breitbeinig im Smoking dastehend, Monokel im Auge. Eine ikonische Pose. Ebenso wie die, die Otto Dix in seinem Ölgemälde festhält, das zu einem der berühmtesten Bilder der Weimarer Zeit avancierte.
Berber widersetzte sich jeder herkömmlichen Vorstellung von „Anstand“ und bestand darauf, selbst zu entscheiden, was sie tun will. Weswegen viele sie auch als frühe Feministin sehen.
Mit solchen Outfits wurde Berber zu einer Modeikone und stand für die sogenannte „Neue Frau“. Sie hatte Affären mit der jungen, noch unbekannten Marlene Dietrich (die vieles vom Berber kopierte), ließ sich für Frauenzeitschriften mit gespreizten nackten Beinen zeichnen bzw. von Leuten wie Madame d‘Ora fotografieren. Kurz: Berber widersetzte sich jeder herkömmlichen Vorstellung von „Anstand“ und bestand darauf, selbst zu entscheiden, was sie tun will – auf der Bühne, im Bett, im Leben. Weswegen viele sie auch als frühe Feministin sehen.
In seinem Zeitporträt – das sich gezielt auf die Stadt Berlin konzentriert – zitiert Fuhrer neben Zeitungen vor allem berühmte Autoren wie Klaus Mann, der 1924 nach Berlin kommt und viel darüber schreibt, auch über Berber. Seltsamerweise zitiert Fuhrer nicht Magnus Hirschfeld, der in seiner „Sittengeschichte der Nachkriegszeit“ weit detaillierter auf der Lebensgefühl jener Jahre eingeht, als es hier geschieht.
Interessant ist Fuhrers These, dass nach dem Ende der Inflation mit Josephine Baker 1926 ein neuer „Typ“ Frau in der Unterhaltungsbranche auftaucht – lebenslustig, nicht am Abgrund wankend, wie Berber, deren Karriere nach Ankunft Bakers in Berlin steil bergab geht. Obwohl sie 1927 nochmals prominent im Fritz-Lang-Film „Metropolis“ zu sehen ist in einem weiteren ikonischen Auftritt. Aber ihre Zeit war vorbei.
Dass sie gerade jetzt wieder so in den Fokus rückt, liegt am Erfolg der Serie „Babylon Berlin“, die auch für Fuhrer den Anstoß gab, sich mit Berbers Leben als Zeitspiegel zu beschäftigen, wie er im SIEGESSÄULE-Gespräch sagt. Es haben sich bei ihm auch schon Filmproduzenten gemeldet und Interesse am Stoff bekundet. Für eine Mini-Serie wäre das Leben Berbers (und Drostes) perfekt geeignet. Ryan Murphy, bitte übernehmen Sie!
Armin Fuhrer: „Sextropolis. Anita Berber und das wilde Berlin der Zwanzigerjahre“
304 Seiten, 24 Euro
BeBra Verlag
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