Literatur

„An einem Tisch“ von Bryan Washington: Familienroman queer gedacht

7. Nov. 2023 Marlon Brand
Bild: Dailey Hubbard
US-Literatur-Shootingstar Bryan Washington

Klassisch und doch modern: Bryan Washington erzählt in seinem neuen Roman „An einem Tisch“ von Verlust, queeren Beziehungen, Chemsex und vom Kochen im wohl traditionsreichsten Genre der amerikanischen Literatur – dem Familienroman. Im Original heißt er passenderweise „Family Meal“

Nachdem sein Partner eines gewaltsamen Todes gestorben ist, kehrt Cam in seine Heimatstadt Houston, Texas zurück. Er arbeitet in einer Schwulenbar, cruist, dröhnt sich mit Drogen zu und hat Sex. Zufällig begegnet er TJ, seinem Jugendfreund, in dessen Elternhaus er nach dem Tod seiner Eltern untergekommen war und den er seit zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte. Trotz alter Wunden und unausgesprochener Konflikte beginnen die beiden, wieder Zeit miteinander zu verbringen und Cam fängt an, wie schon in seiner Jugend, in der Bäckerei von TJs Familie zu arbeiten. Das Aufeinandertreffen nach all den Jahren macht die Traumata der Vergangenheit allerdings allgegenwärtig.

„'An einem Tisch' ist aus der Sicht von drei schwulen Schwarzen Männern geschrieben, Perspektiven, die man selten so im Literaturkanon vorfindet.“

„An einem Tisch“ ist aus der Sicht von drei schwulen Schwarzen Männern geschrieben, Perspektiven, die man selten so im Literaturkanon vorfindet. Neben Cam kommt auch TJ zu Wort, der eine Schwarze Mutter und einen koreanischen Vater hat. Anders als Cam ist ihm die Flucht aus der Enge seines Viertels nie gelungen. Nach dem Tod des Vaters bricht er das Studium ab, um gemeinsam mit seiner Mutter die Bäckerei zu führen. Er hat keine Beziehung, aber eine Affäre mit einem nicht offenen schwulen Mann, der mit einer Frau verlobt ist. Dass er schwul und HIV-positiv ist, verrät TJ seiner Mutter nicht.

Die Figuren sprechen die Sprache der queeren Subkultur

Und dann wäre da noch Kai, Cams verstorbener Partner. Immer wieder sucht er Cam heim und spricht mit ihm. In dem ihn gewidmeten Kapiteln erzählt der Wiedergänger seine Geschichte und verdeutlicht, wie lebendig die Vergangenheit in diesem Roman ist.

Bryan Washington ist das, was man einen literarischen Shootingstar nennt. Sein Buch „Lot: Geschichten einer Nachbarschaft“ (2022) zeichnet über verschiedene, lose zusammenhängende Erzählungen das Porträt des East-End-Viertels in Houston. Auch in seinem gefeierten Debütroman „Dinge, an die wir nicht glauben“ (2021) ging es um Familienstrukturen, Nachbarschaft und im Zentrum um ein interkulturelles schwules Paar – sowie die Annäherung an deren jeweilige entfremdete Eltern.

In seinen Texten nähert sich Washington Themen wie Armut, Gentrifizierung, Polizeigewalt, Homophobie, Aids, Drogen und auch komplizierter Liebe vollkommen unaufgeregt. Genau diese Unmittelbarkeit macht seine Prosa so effektiv. Sie geht den Lesenden sehr viel näher als jeder dramatische Kitsch, den man fälschlicherweise aufgrund des deutschen Klappentexts vom neuen Roman erwarten könnte.

„In seinen Texten nähert sich Washington Themen wie Armut, Gentrifizierung, Polizeigewalt, Homophobie, Aids und Drogen vollkommen unaufgeregt.“

Washingtons Sprache ist minimalistisch, fast klassisch und doch ziemlich lässig und modern. Seine Figuren sprechen umgangssprachlich miteinander, und wenn sie durch die Raster der schwulen Dating Apps scrollen, bedienen sie sich der Sprache der queeren beziehungsweise schwulen Subkultur, ohne dass Washington das Bedürfnis verspürt, diese Sprache Nichteingeweihten zu erklären. Man könnte den Autor, wie manche es bereits getan haben, auch als die LGBTIQ*-Stimme der Gen Z bezeichnen.

„An einem Tisch“ erzählt von biologischen und von Wahlfamilien, die wir verlassen und zu denen wir zurückkehren, mit denen wir an einem Tisch eine Mahlzeit einnehmen, um zu schweigen, zu streiten, uns zu versöhnen und zu heilen. Vor allem erzählt der Roman aber davon, wie die Vergangenheit die Gegenwart bestimmt. Und davon, dass wir so etwas wie Frieden finden, wenn wir lernen, die Vergangenheit zu akzeptieren. Ganz nebenbei serviert Washington dabei einen wunderbare Geschichte mit manch köstlich klingendem Gericht.

Bild: Kein & Aber Verlag

Bryan Washington: „An einem Tisch“
(übers. v. Werner Löcher-Lawrence),
Kein & Aber Verlag,
368 Seiten, 24 Euro

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