Aleksandar Hemons epischer Kriegsroman: „Die Welt und alles, was sie enthält.“
In „Die Welt und alles, was sie enthält“ erzählt der bosnisch-amerikanische Schriftsteller Aleksandar Hemon vom schwulen jüdischen Apotheker Pinto, der in den Strudel des Ersten Weltkriegs gerät und an der Front Osman kennenlernt. Hemon wurde 1964 in Sarajevo geborene und wurde mit Büchern über Krieg, das Trauma von Vertreibung und Entwurzelung bekannt. SIEGESSÄULE sprach mit dem in Chicago lebenden Autor
Wie kamen Sie auf die Idee, eine Male-Male-Lovestory ins Zentrum eines Kriegsromans zu rücken? Als ich vor circa 15 Jahren anfing, über das Buch nachzudenken, waren Pinto und Osman noch Freunde und das alles überlagernde emotionale Thema war Nostalgie. Ihre Route war die gleiche: von Sarajewo nach Shanghai. Beide bewegten sich weg von Sarajevo, während sie sich immer intensiver daran erinnerten.
„Irgendwann wurde mir klar, dass Nostalgie das falsche Spielfeld ist, Liebe ist viel komplexer und berührt auch ihre Körper.“
Irgendwann wurde mir klar, dass Nostalgie das falsche Spielfeld ist, Liebe ist viel komplexer und abwechslungsreicher und berührt auch ihre Körper. Das war erzählerisch ergiebiger. Ich habe nicht recherchiert, ob es in einem vergleichbaren Setting andere neue Bücher mit gleichgeschlechtlicher Liebe gibt. Aber mir war bewusst, dass es in klassischen Epen homoerotische Spannungen zwischen Helden gibt – zum Beispiel bei Gilgamesch (wo Gilgamesch und Enkidu offensichtlich ineinander verliebt sind) oder in der Ilias (wo Achilles das Herz bricht nach dem Tod von Patroklos). Historisch gesehen war das Militär – bevor Frauen Teil der Truppe wurden – eine homosoziale Organisation, wo Männer Tage und Nächte miteinander verbrachten, gemeinsam badeten, ihre intensivsten Erfahrungen teilten, Leben und Tod. Natürlich war da auch Sehnsucht und Liebe Teil des Alltags. Aber die dominanten heteronormativen Narrative haben das unterdrückt oder ignoriert. Mir wurde jedoch klar, welches Potenzial darin steckt.
Kriegsgeschichten stehen selten im Zentrum von LGBTIQ*-Bestsellern. Ihre Protagonisten setzen sich auch nicht mit typischen LGBTIQ*-Themen auseinander, wie Coming-outs. Mich interessierte die klassische Epenstruktur, wo der Held bzw. die Helden Gefahren, Herausforderungen, Widersacher*innen begegnen und dabei ihre Heldenstatus beweisen müssen. Meist haben sie außergewöhnliche Kräfte, sind herausragende Kämpfer und/oder besonders clever. Ich wollte, dass die besondere Kraft meiner Helden Liebe ist. Das, was Pinto hilft zu überleben, ist seine Gabe, selbst unter den schwierigsten Umständen seine Liebe zu Osman aufrechtzuerhalten. Oft ist es so, dass Helden wie Gilgamesch oder in der Odyssee die Zivilisation verlassen und Herausforderungen an den Rändern der Gesellschaft begegnen. Dort werden sie mit fast unvorstellbaren Situationen konfrontiert, die ihren heroischen Mut erfordern. Meine beiden Helden begegnen an keinem Punkt so was wie einer funktionierenden Gesellschaft, wo es für sie einen vorgesehenen Platz gäbe.
„Coming-out bedeutet, sich zu behaupten und seiner Position zu versichern in einem existierenden sozialen Gefüge.“
Coming-out bedeutet, sich zu behaupten und seiner Position zu versichern in einem existierenden sozialen Gefüge. Meine beiden Männer haben nichts, woraus sie „herauskommen“ und wo „hinein“ sie sich etablieren könnten. Sie versuchen einfach, die brutale Welt zu überleben, indem sie sich gegenseitig lieben. Ich kann mir keinen heroischeren Akt vorstellen.
Bei Ihnen verliebt sich ein jüdischer Mann in einen Muslim. Wie realistisch ist das im Bosnien von 1914 – und heute? Ich bin nicht sicher, wie man „realistisch“ misst. Ich weiß, dass ihre Beziehung vorstellbar ist und somit möglich. Menschen in Sarajevo wie anderswo haben sich seit Jahrhunderten über Religionsgrenzen hinweg geliebt. Was die Jetztzeit angeht: natürlich gibt es gleichgeschlechtliche Paare in Sarajevo mit verschiedenen Hintergründen. Die Frage ist nicht, ob es sie gibt. Die Frage ist, ob ihnen von der Gesellschaft der gleiche Respekt entgegengebracht wird, der jeden Menschen zusteht. In Bosnien hat sich viel verändert, es gibt inzwischen eine sichtbare und präsente LGBTIQ*-Community, sogar eine regelmäßige Pride-Parade, wo ich übrigens diesen Monat als DJ dabei sein werde.
Trotzdem ist es für gleichgeschlechtliche Paare nicht immer einfach, dort zu leben. Ist Ihr Buch auch als Provokation gegen queerfeindliche religiöse Gruppen in Bosnien gedacht? Es gibt in Sarajevo eine Moschee aus dem 16. Jahrhundert, die von Gazi Hüsrev Bey gebaut wurde, ein Kriegsheld, der auch eine Bibliothek und Koranschule errichten ließ. Er ist begraben – auf dem Gelände der Moschee – neben dem Mann, den er einst im Krieg gefangen nahm, zu seinem Sklaven machte und dann zu seinem Stellvertreter. Sie lebten zusammen, schliefen viele Jahre zusammen, waren nie verheiratet. Viele Gesellschaften haben so getan (und tun noch immer so), als wären queere Menschen eine seltene Verirrung, weswegen man sie ignorierte, wenn man sie nicht verfolgte. Aber queere Menschen hat’s schon immer gegeben und wird es immer geben. Zum Vorteil der Menschheit. Ich denke, es lohnt, ihnen in Narrativen endlich den ihnen zustehenden Platz einzuräumen. Es gibt ein Musikalbum mit dem gleichen Titel wie mein Buch, von meinem Freund Damir Imamović, einem bosnischen Sänger. Darauf finden sich Lieder, die Pinto und Osman sich gegenseitig vorsingen sowie Lieder über sie. Damir ist ein Sevda-Künstler, eine traditionelle Form bosnischer Musik, nah verwandt mit der Musik, die die Sephardim nach Bosnien gebracht haben.
„Historisch haben Frauen Sevda als Liebeslieder an Männer gesungen. Damir hat als schwuler Mann diese Tradition neu belebt.“
Historisch haben Frauen Sevda als Liebeslieder an Männer gesungen. Damir hat als schwuler Mann diese Tradition neu belebt. Als ich mit meinem Buch halb fertig war, habe ich mit ihm darüber gesprochen, dieses Album zu machen. Er schickte mir Demos von Liedern, die er geschrieben hatte, so dass ich sie in meinen Text einbauen konnte. Ich bin kein Provokateur oder Revolutionär, weder in Bosnien noch anderswo. Menschen haben seit langem für LGBTIQ*-Rechte gekämpft. Ohne diese Kämpfe wäre mein Buch nicht möglich gewesen.
Was für Feedback haben Sie von LGBTIQ* bekommen? Die Community ist kein monolithischer Raum. Aber etliche LGBTIQ*-Freunde, die ich kenne, lieben das Buch. Aus der bosnischen Diaspora, die das Buch auf Englisch gelesen hat, bekam ich ebenfalls überwältigend zustimmende Reaktionen. Das erwarte ich eigentlich auch, wenn im Juni eine Übersetzung in Bosnien erscheint.
Aleksandar Hemon: Die Welt und alles, was sie enthält
Claassen Verlag
400 Seiten, 26 Euro
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