Bewegungsmelder

Abtreten!

9. Juli 2021 Dirk Ludigs
Bild: Marcus Witte

Von CSD 2014 bis CSD 2021: Nach sieben Jahren schreibt unser Kolumnist Dirk Ludigs seinen letzten Bewegungsmelder. Eine Bilanz aus dem Bauch der Bewegung.

The last and final moment is yours,
That agony is your triumph!

Joan Baez

Im Frühling 2014 fragte mich die damalige Mit-Chefredakteurin Christina Reinthal, ob ich mit vorstellen könnte, für den Online-Auftritt der SIEGESSÄULE regelmäßig politische Kolumnen zu schreiben.

Ich schlug ihr vor, einen queeren Blick aus dem Bauch der Bewegung zu liefern, meinungsstark und gegen den Strich gebürstet. Wir fanden, „Bewegungsmelder“ sei für diesen Anspruch ein guter Titel.

Gleich der erste beschäftigte sich mit dem Streit um den CSD e.V. und dem Auseinanderbrechen des CSD 2014 in mehrere getrennt marschierende Paraden. Soll also mal einer sagen, es gäbe in Berlin keine Beständigkeit!

Der Streit unter Queers war für mehr als sechzig dieser Kolumnen gut und beileibe nicht alle Auseinandersetzungen drehten sich so sehr im Kreis, wie die, ob ein CSD kommerziell sein darf und wenn ja, wie viele?

„Es geht vor allem um die Frage nach Teilhabe.“

In diesen sieben Jahren ist wahnsinnig viel passiert: Black Lives Matter und Diskurse um Rassismus innerhalb unserer queeren Communities, der Aufstieg der AfD und des Rechtspopulismus. Der Kampf um die Ehe, um die Abschaffung des „Transsexuellengesetzes“ (TSG), die Einführung einer dritten Option. Die Debatte um das Buch „Beißreflexe“ und damit verbunden eine Reihe von Machtkämpfen in queeren Institutionen Berlins, zwischen Vertreter*innen der klassischen schwulen und lesbischen Bürgerrechtsbewegungen und Anhänger*innen queerfeministischer und postkolonialer Perspektiven.

In diesen Machkämpfen geht es vor allem um die Frage nach Teilhabe all der Personen, die auch in unseren Strukturen marginalisiert werden: trans* Personen, inter* Personen und Non-Binary, Migrantisierte, Schwarze Menschen, Indigene, Personen of Color und Menschen, die behindert werden. Übrigens auch: von Klassismus Betroffene, ein Thema, dem ich mir als Arbeiter*innenkind mehr Aufmerksamkeit wünsche.

„Mir fiel die Rolle zu, der alte weiße schwule Cis-Mann zu sein, der alten weißen schwulen Cis-Männern die Leviten liest.“

Ich bin auch ein Kind der autonomen Schwulenbewegung der frühen Achtziger Jahre. Viele Ideen und Positionen, die für heute 25-Jährige mit akademischem Background selbstverständlich sind, musste ich mir im Nachhinein und manchmal mühsam erarbeiten. Die letzten sieben Jahre waren für mich auch ein ständiger Lernprozess. Nicht alle in meiner Generation sind diesen Weg mitgegangen.

Und so fiel mir in den letzten Jahren immer öfter an dieser Stelle die Rolle zu, der alte weiße schwule Cis-Mann zu sein, der alten weißen schwulen Cis-Männern die Leviten liest.

Von meinesgleichen hörte ich dabei immer wieder: „Wir haben keine Privilegien, wir haben uns das alles erkämpft, warum sollen wir davon etwas abgeben, sollen doch die trans* Leute, die Migrantisierten und BIPoC sich das auch erkämpfen.

Ich glaube, dieser Satz ist in vielerlei Hinsicht falsch.

Zuallererst ist er ein Mythos. Kämpfen reicht nicht. Viele vor uns haben umsonst gekämpft, auch und gerade schwule Männer. Unsere Geschichte ist eine Geschichte des Scheiterns.

Erst wenn der Kampf der Minderheit auf eine Mehrheit trifft, die bereit ist, deren Anliegen anzuerkennen, hat er Aussicht auf Erfolg. Die autonome Schwulenbewegung, aus der ich stamme, ist dafür das beste Beispiel.

Vor fünfzig Jahren hatten die Achtundsechziger, die Frauenbewegung und die Bürgerrechtsbewegung aus den USA in der westdeutschen Gesellschaft die Grundlagen gelegt, damit aus Praunheims Film und Danneckers Texten eine Bewegung werden konnte, die das Land verändert hat.

„Die Mehrheitsgesellschaft hat unsere Kämpfe anerkannt und Platz für uns geschaffen.“

Unsere Ideen waren erfolgreich, weil sie in der Gesamtgesellschaft bei immer mehr Menschen auf fruchtbaren Boden fielen. Nur deshalb begann die Staatsknete zu fließen, nur deshalb begannen unsere Institutionen zu wachsen.

Man könnte auch sagen: Die Mehrheitsgesellschaft hat unsere Kämpfe anerkannt und Platz für uns geschaffen. Sie hätte uns auch niederknüppeln können.

Heute stehen wir alten weißen schwulen Cis-Männer trotz der Aids-Katastrophe, trotz aller politischen Rückschläge vor der schönsten Situation, die wir uns damals haben erträumen können: Zum ersten Mal seit Jahrhunderten hat eine Generation von uns die Chance, eine Menge Ressourcen an die nächsten Generationen weiterzugeben, Traditionen zu stiften.

Diese nächsten Generationen sind aber, wer hätte es gedacht, anders als wir es waren. Sie denken schwul, bi oder lesbisch in den Kontexten von cis- und trans-, überwinden das binäre Denken, definieren sich deshalb oft grundsätzlich anders als wir, schließen neue Bündnisse und sind vor allem: viel weniger oft weiß!

Bei den unter 25-Jährigen liegt der Anteil an Menschen mit Migrationsgeschichte in Deutschland bei fast 38 Prozent. Bei den über 55-Jährigen sind es keine 15 Prozent. Gleichzeitig gibt es aber in Deutschland ein Drittel weniger Menschen zwischen 15 und 25, als es Menschen zwischen 55 und 65 gibt, rund acht Millionen im Vergleich zu zwölf.

„Ich bewundere die Kämpfe der jungen Queers.“

Während die Jungen zusehen müssen, wie ihre Zukunftschancen durch den Klimawandel, die weltweiten Kämpfe um knapper werdende Ressourcen und das Erstarken des Nationalismus stetig schwinden, stehen sie gleichzeitig einer riesigen Phalanx älterer Leute gegenüber, die sich, danke schön, noch erklecklich fit fühlen und keinerlei Grund sehen, jetzt schon Raum zu schaffen.

Ich bewundere die Kämpfe der jungen Queers. Ich habe von ihnen viel gelernt und ich denke, sie haben mehr Recht als jede andere Generation davor, ihre Zukunft möglichst rasch selbst zu bestimmen, denn diese Zukunft wird jeden Tag weniger.

Wenn wir alten weißen schwulen Cis-Männer unsere Mythen hinterfragen, aus unseren eigenen Kämpfen lernen, wenn wir wollen, dass sie nicht umsonst waren, sondern dass unsere Institutionen überleben, weil sie von jungen Menschen mit neuem, mit ihrem Leben gefüllt werden, wenn wir unser hart erkämpftes Erbe nicht hartherzig verspielen wollen, dann sollten wir vor allem eher früher als später Platz machen und unsere Ressourcen teilen.

Es wird uns nicht ärmer, sondern reicher machen, so wie die ganze Gesellschaft durch unsere Partizipation nicht ärmer, sondern reicher geworden ist.

Und keine Bange: Unsere Expertise wird gefragt bleiben. Umso mehr, je mehr wir sie in den Dienst der Generationen nach uns stellen. Abtreten ist immer auch ein Anfang.

In diesem Sinne: Vielen Dank, dass ich das Privileg hatte, hier schreiben zu dürfen.

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