Scham und Trauer

Jeder Pädoskandal wie die aktuellen Ermittlungen gegen Sebastian Edathy öffnet eine gut verschlossene Truhe der Erinnerung: Wie es sich anfühlt, missbraucht worden zu sein. Ein Erfahrungsbericht
Ich gehe selten in Schwimmbäder. Wenn ich mich doch dazu aufraffe, fällt dort manchmal mein Blick auf dünne, blasse Jungs. Zu klein, zu schmächtig für ihr Alter, mit einem etwas zu ernsten Ausdruck. Dann sehe ich mich als Kind von etwa 14 Jahren. Und stelle ich mir Fragen: Trägt er auch dieses Geheimnis in sich? Hat er erlebt, wie es sich anfühlt von einem Mann, doppelt so alt, anal penetriert zu werden. Hat auch er dabei seinen ersten Orgasmus mit einem Partner erlebt? Und schämt auch er sich unendlich dafür, so wie ich mich viele Jahre dafür geschämt habe?
Peter war mein Erzieher auf dem Internat. Ein sanfter, freundlicher Typ, lässig. Lange Haare, Vollbart, immer in seinem ausgewaschenen Ami-Parka unterwegs. Gitarrespielen hat er mit beigebracht, aber von ihm erhielt ich etwas viel wichtigeres, etwas das ich bis dahin kaum kannte: Zuwendung, Interesse an meinen Leben. Ich war ein emotional vernachlässigtes Kind. Produkt einer gescheiterten Beziehung, dass seinen Eltern eigentlich nur im Weg war. Ein Schulversager und Schlüsselkind mit deutlichem Hang zur Verwahrlosung. So kam ich damals mit knapp 13 Jahren in Peters Wohngruppe an.
Seine Wohung: Zufluchtsort, wenn mich das Heimweh im Internat mal wieder gepackt hat
Peter lud mich immer wieder übers Wochenende zu sich ein. Das war völlig unverdächtig, denn er war verheiratet, Vater eines Sohnes, der noch in den Windeln lag. Seine Frau arbeitete als Krankenschwester. Und beide waren eifrige Mitglieder ihrer Kirchengemeinde. Ihre Wohnung war so ganz anders als das, was ich von zuhause kannte. Statt geblümter Couch ein Matratzenlager, statt Eiche rustikal Bücherregale bis an die Decke, eine Stereoanlage auf dem Boden und an der Wand das „Make love – not war“-Poster statt einer Berg-Landschaft in Öl. Studentischer 70er-Jahre-Schick. Die Wohnung war mein Zufluchtsort, wenn mich das Heimweh im Internat mal wieder gepackt hat. Wann immer ich wollte, durfte ich kommen. Peter hat nie Nein gesagt.
Pädophile wenden sehr viel Geschick auf, bei ihren späteren Opfern eine vertrauensvolle Basis zu schaffen, heißt es. Ideale Pädagogen, so wie Gerold Becker von der Odenwaldschule einer war. Der Zufall will es, dass mein Internat nur wenige Kilometer davon entfernt liegt, aber einen völlig anderen Ruf hatte. Während wir uns in einem streng geregelten christlichen Bootcamp wiederfanden, erschien uns das Odenwaldinternat als eine Art überdimensionale gymnasiale Kiffer-WG. Dort, so stellten wir uns vor, gebe es alles, was bei uns verboten war. Alles was Spaß macht.
Als die Berichte über Beckers pädosexuelles Pandämonium die Medien fluteten, sah mein inneres Auge wieder die mondhelle Nacht. Wie ich plötzlich wach wurde und mich wunderte, warum ich keine Schlafanzughose mehr trug. Wie, als alles vorbei war, ich erstarrt im Bett lag. Regungslos, weil ich Angst hatte, meine heftig drückende Blase zu entleeren. Es sollte nur endlich hell werden.
Lange Zeit waren Selbstgespräche meine einzige Chance über das zu reden, was geschehen war
Nein, du bist nicht schwul geworden, weil du mit Peter deinen ersten schwulen Sex, deinen ersten Sex überhaupt hattest. Selbstgespräche. Lange Zeit waren sie meine einzige Chance über das zu reden, was geschehen war. Keiner meiner Männer, die ich liebte, hat je erfahren, warum ich es nicht mochte, gefickt zu werden.
Fast 30 Jahre später sitze ich in einer psychotherapeutischen Gruppenstunde und halte meinen „Lebensbericht“, wie sie das dort nennen. Meine Therapeutin hat mir heftig zugeraten, ja, auch „das“ zu erzählen. Mir versagt die Stimme, meine Tränen wollen nicht enden. Zum ersten Mal weine ich. Wie wäre wohl mein Leben verlaufen, hätte es Peter nicht gegeben? Hinter mir liegen die Ruinen gescheiterter Beziehungen. Mein Leben ist das eines Außenseiters geblieben, wenig Beständiges findet sich darin wieder.
Einmal, in einer Zeit meines größten Glücks, traf mich ein Anruf wie der Blitz aus heiterem Himmel. Peter war dran. Weiß der Teufel, woher er meine Nummer hatte. Wir sprachen kurz, tauschten belangloses Zeug aus. Nachdem ich aufgelegt hatte, kochte ich vor Wut. Warum habe ich nicht Nein gesagt? Nein, ich will nicht mit dir reden! Warum überhaupt, kann ich so selten Nein sagen, wenn ich merke, dass etwas über meine Kraft geht?
Die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche, der Odenwaldschule oder die Edathy-Affäre sind Trigger meiner Erinnerungen. Ich wurde nicht in einen ukrainischen Pornoring versklavt, von mir gibt es keine Videos, die mich als pubertierendes Kind in zweifelhaften Posen zeigen. Ich wurde nur einmal gefickt und ich war 14. Die Wut darüber ist einer tiefen Traurigkeit gewichen, die mich bis heute nicht freigibt. Und Vollmondnächte finde ich bis heute nicht sonderlich romantisch.
Jonas Eberstädter
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