Zwischen Trauma und Euphorie: Wie Schwule aus der DDR den Mauerfall erlebten
Wir sprachen mit drei schwulen Zeitzeugen aus Potsdam und Ostberlin über die Nacht des Mauerfalls und ihr Leben vor und nach der Wende
Peter, du bist langjähriger schwuler Aktivist. Wie kamst du dazu? Peter Rausch: Mein sukzessives Coming-out dauerte von 1966 bis 1971. Als ich damit durch war, begann die Emanzipationsbewegung im Westen. Wir hörten relativ früh davon und wollten auch in Ostberlin eine Aktionsgruppe gründen. Am 15. Januar 1973 sahen wir in meiner Wohnung den Film von Rosa von Praunheim „Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt“ und vor allem die Fernsehdiskussion danach. Eine Woche später gründeten wir die erste Emanzipationsgruppe in Osteuropa. Den 15. Januar 1973 wählten wir dafür als offiziellen Gründungstag.
Wie war es für euch, als schwule Männer in der DDR zu leben? Uwe Fröhlich: Es war immer klar, dass wir individuell von der Staatssicherheit beobachtet wurden. Peter: Die Stasi hat vor allem die Kirchenkreise ab Anfang der 80er als „Keimzellen des Widerstands“ massiv überwacht. Schwule und Lesben wurden traditionell von der Kriminalpolizei im Auge behalten, aber ab dem Zeitpunkt, als sich Homos unter dem Dach der Kirche organisierten, wurden wir zu einem Politikum. Und dann beobachtete uns die Stasi höchst selbst. Uwe: Zusätzlich zu der Tatsache, dass wir als Schwule in der DDR bis 1968 mit einem Straftrechtsparagrafen gelebt haben, galten wir auch noch als krank, weil die Weltgesundheitsorganisation uns bis 1990 so bezeichnete. Aber das traf Ost- und Westdeutsche ja gleichermaßen.
Ron, du warst erst 17, als die Mauer fiel. Hattest du vor der Wende Kontakt zu anderen LGBTI*? Ron Schulz: Ich bin in DEFA-Kreisen zwischen ganz vielen Schwulen und Lesben groß geworden, ohne es zu merken. Außerdem bin ich das Kind eines schwulen Vaters. Nach der Scheidung meiner Eltern hat sich mein Vater ein klammheimliches zweites Leben aufgebaut, das sich mir erst kurz vor seinem Tod erschlossen hat, als mir ein Mensch vorgestellt wurde, der offensichtlich seit Jahren sein Lebensgefährte war. Das Wort „schwul“ hat mein Vater aber nie in den Mund genommen.
Kommen wir zur Nacht des Mauerfalls. Wo wart ihr und was habt ihr gemacht? Uwe: Ich war bei einer Demo zum Jahrestag der Pogromnacht und schaute danach mit meinem Freund zu Hause die Pressekonferenz im TV. Ich bin aber erst am nächsten Tag mit einem Bus nach Westberlin gefahren, weil ich zunächst dachte, dass sie die Grenze vielleicht gleich wieder dicht machen. Peter: Die lesbische Aktivistin Uschi Sillge und ich waren als Vertreter*innen des Sonntags-Clubs im Kino International bei der Premiere von „Coming Out“. Danach gingen wir in ein Bistro und quatschten über den Film. Über das Radio bekamen wir langsam mit: An der Grenze wirds jetzt richtig ernst. Ich ging nach Hause, um mir das im Fernsehen anzuschauen. Ron: Ich war noch nicht volljährig und saß in einem Lehrlingswohnheim in Marzahn. Als unsere Erzieher mitkriegten, was da los war, schlossen sie uns ein. Die hatten alle Schiss, dass die minderjährigen Kinder abhauen und sie am nächsten Tag den Eltern erklären müssen, wo ihre Kinder hin sind. Daraufhin sind wir aus der zweiten Etage mit einem Feuerwehrschlauch ausgestiegen. Ich bin dann zum Brandenburger Tor gefahren und am nächsten Morgen ganz brav in der Lehrwerkstatt erschienen.
Wie war die Stimmung auf den Straßen? Uwe: Es war ein Ausnahmezustand, weil gefühlt alle Menschen aus Potsdam, dem Land Brandenburg und natürlich Ostberlin mal schauen wollten. Peter: Das war ja ein Schnäppchen. Von einem Tag auf den anderen. Mit wenigen Schritten kamst du in eine exotische Welt. Mit 20 Ostpfennigen für eine S-Bahnkarte landetest du im Shoppingparadies. Ron: Am 10. November bin ich von der Lehrwerkstatt nach Hause gefahren, um meine Klamotten in die Waschmaschine zu packen, und habe meiner Mutter einen Zettel hingelegt: „Bin im Westen, komme wieder.”
Welche Eindrücke vom Westen haben sich bei euch eingeprägt? Uwe: Ich war neugierig: Was ist denn diese neue Freiheit? Ich wollte alles probieren. Dann habe ich aber festgestellt, dass diese neue Freiheit gar nicht so frei ist. Schnell sah ich auch die Zwänge, die mit ihr verbunden waren. Das war ein Wechselbad der Gefühle zwischen Trauma und Euphorie.
Kamt ihr dann zurecht in der neuen LGBTI*-Szene? Peter: Wir hatten schon ein paar Jahre vor dem Mauerfall eine spannende Zeit. Aber nach der Wende ging noch mehr. Wir machten den Sonntags-Club in kürzester Zeit westfähig. Gleichzeitig suchte ich den politischen Kontakt und war auch in den einschlägigen Kneipen unterwegs. Ron: Ich habe mich mit der Westberliner Szene nicht anfreunden können. Ich war dort, aber das war mir alles zu oberflächlich. Ich bin natürlich ins Connection gegangen, aber das war nie meine Welt. Ich habe mich in der Ost-Szene wohler gefühlt und bin gerne in die Schoppenstube gegangen.
Schwule und lesbische Aktivist*innen haben in der DDR ganz selbstverständlich zusammengearbeitet. Wie habt ihr die diesbezüglichen Konflikte in der Westbewegung erlebt? Peter: Für uns war Zusammenarbeit ein ganz natürlicher Vorgang. Dass Schwule und Lesben in Westberlin schon in den 70er-Jahren auseinander drifteten, fand ich gegen jeden emanzipatorischen Gedanken. Wir im Osten kooperierten miteinander, wenn es notwendig, sinnvoll und vergnüglich war. Und machten getrennt Party bei Bedarf. Der Sonntags-Club ist bis heute ein lesbisch-schwul-bi-trans* Erfolgsprojekt gegen jede Ideologie. Das Westberliner Biotop sollte endlich davon lernen.
Viele Menschen aus der ehemaligen DDR haben heute keine Lust mehr, über die Vergangenheit zu sprechen. Warum ist das so? Peter: Ossis werden immer weniger, und die moderne Welt besteht bald nur noch aus Touristen. Vierzig Jahre DDR-Zoo mit 17 Millionen armen Schluckern ist nun dreißig Jahre her und füllt inzwischen die Regale des Bundesarchivs. Vierzig Jahre DDR sinken zurück in die gemeinsame deutsche Geschichte. LGBTI*-Ossis sind zu Wessis geworden und wollen lieber interviewt werden zu „Mein Haus“, „Mein Boot“, „Meine zwei Komma vier Kinder“.
Interview: Joe von Hutch
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