Matthias Freihof: „Die Westberliner Schwulenszene hatte ein arrogantes Selbstverständnis“
In derselben Nacht, als die Mauer fiel, feierte „Coming Out“, der einzige DEFA-Spielfilm mit schwuler Thematik, Premiere im Kino International. Wir sprachen mit Hauptdarsteller Matthias Freihof
Der Film zeigt einen jungen Lehrer in der DDR, der sich nach langem Ringen outet. Inwiefern konntest du dich mit der Rolle identifizieren? Meine Geschichte und die des Phillip haben im Grunde wenig gemein. In der Originalfassung war die Schlusssequenz ein dreiseitiger Monolog vor dem Kollegium und der gesamten Schülerschaft, in dem er sich für sein Verhalten entschuldigt. Als klar wurde, dass ich die Rolle spielen würde, habe ich zu Regisseur Heiner Carow gesagt, dass ich die Szene so nicht spielen könnte, weil wir dann alle Erkenntnisse des Films wieder zurücknehmen würden. Das war ein langes Hin und Her, aber am Ende konnten wir uns auf eine Version einigen. Viele haben den Film geprägt, weil ihnen die Geschichte am Herzen lag.
Welchen Einfluss hatte „Coming Out“ auf deine Karriere? Für mich war der Fall der Mauer, gepaart mit der Premiere von „Coming Out“, ein Geschenk, das mir vieles ermöglichte – wie zum Beispiel die Auszeichnung des Films auf der Berlinale 1990. Seit den Nullerjahren arbeite ich aber vermehrt im Theater, da die Bandbreite der Inhalte und Charaktere dort viel größer ist als im heutigen deutschen Film und Fernsehen.
Zuschauer*innen können durch den Film einen einzigartigen Einblick in eine (schwule) Welt der DDR erhalten, die es so nicht mehr gibt. Kommt da Nostalgie auf? Die Westberliner Schwulenszene nach der Wende hatte definitiv ein arrogantes Selbstverständnis des ‚Weiter-seins‘. Schon damals war die Szene in viele kleine Untergruppen geteilt. Obwohl die Ostberliner Schwulenszene nicht in dieser Art gespalten war, trauere ich der DDR keine Träne nach. Gerade in den 90er-Jahren hatte die Berliner Szene eine neue Hochphase, befreit von Trennung und staatlicher Kontrolle. Das waren revolutionäre Zeiten. Schwule, Lesben und Heteros hatten nebeneinander Sex in Darkrooms – ich denke da ans ehemalige Ostgut – und keiner hat sich am anderen gestoßen. Das ist heute leider anders.
Rückblickend erscheint es unglaublich, dass eine explizit homosexuelle Produktion unter der Kontrolle der DDR entstand. Wie konnte der Film realisiert werden? Die Stellung von Heiner Carow als international anerkannter Regisseur machte „Coming Out“ überhaupt erst möglich. Im Vorfeld der Dreharbeiten ließ er drei Gutachten erstellen – die Originaldokumente kann man heute im Schwulen Museum einsehen – welche den Inhalt des Films gegenüber der ‚Obrigkeit‘ als ungefährlich einstuften. Die Wissenschaft war eine der wenigen Instanzen, die den Kontrollapparat der DDR hörig machte. Nur so konnte ein derart kontroverser Film mit englischem Titel in der DDR erscheinen. Trotzdem war der Zensurapparat auch während der Dreharbeiten permanent zu spüren, insbesondere bei Szenen, die eine gewisse Systemkritik zeigen. Es wurde versucht, diese Szenen zu verhindern, aber letztendlich konnte sich Heiner durchsetzen.
Warum bleibt „Coming Out“ nach wie vor relevant? Ich würde mir wirklich wünschen, dass es nicht so wäre, aber der Film wird nicht an Relevanz verlieren – auch über die Grenzen Deutschlands hinaus. Zuletzt wurde er auf Filmfestivals in Osteuropa und Russland gezeigt, wo seine Aussage für Minderheiten eine viel aktuellere Bedeutung in sich trägt. Doch auch in Deutschland bleibt noch viel zu tun: Es fehlt heute gerade dem deutschen öffentlich-rechtlichen Fernsehen am Mut zur Vielseitigkeit. Da ist alles mit Persil gewaschen, obwohl unsere Gesellschaft durch AfD und Co. angespannter ist denn je. Minderheiten – ob PoC oder queer – finden nicht statt, außer ihre ‚Andersheit’ spielt eine Rolle für die Geschichte.
Woran liegt das? Filmemacher*innen trauen sich unter dem Druck der Redaktionen nicht mehr zu provozieren und zensieren sich lieber selbst. So vergeben wir jedoch die Chance, einen Dialog entstehen zu lassen, und ersticken an unserer eigenen Political Correctness. „Coming Out“ hatte noch diesen Mut. Abgesehen von seiner Stellung als erste und einzige schwule DEFA-Produktion funktioniert er als Aufklärungsfilm. Er ist kein Kampffilm, kein Polit-Statement, sondern in erster Linie eine sinnliche Liebesgeschichte, mit der sich jeder identifizieren kann und die dazu auffordert, zu sich selbst zu stehen.
Interview: Andy Dohmen
Coming Out,
DDR 1989, Regie: Heiner Carow,
mit Matthias Freihof, Dagmar Manzel und Dirk Kummer
09.11., 20:30,
Kino International,
in Anwesenheit von Matthias Freihof, Dagmar Menzel und Dirk Kummer, Moderation: Knut Eltermann
09.11., 19:30,
Filmmuseum Potsdam
17.11., 12:30,
Delphi Lux
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