Krisen überwinden: Wie LGBTI* mit psychischen Leiden umgehen
In der Community scheinen Suchterkrankungen oder Phobien vermehrt aufzutreten. Doch wenn das stimmt: wie kann man dem begegnen? SIEGESSÄULE sprach mit Betroffenen und Berater*innen
– Sozialphobien, Essstörungen, Depressionen oder Süchte: viele queere Personen haben sie oder kennen zumindest jemanden, der sie hat. Aber ist die LGBTI*-Community wirklich „anfälliger“ für psychische Leiden als der Rest der Gesellschaft? Kurzantwort: Ja. Denn Menschen, die nicht den cis- und heteronormativen Erwartungen entsprechen, leiden noch immer oft unter Diskriminierung und damit auch stärker unter Stress – und der kann psychische und psychosomatische Erkrankungen begünstigen.
Aber: Vorsicht vor Verallgemeinerungen, denn in der Realität sind die Faktoren, die unsere mentale Gesundheit beeinflussen, natürlich weitaus komplexer und individuell sehr verschieden. Mari Günther, Paar-, Poly- und Familientherapeutin sowie trans* Beraterin bei der Berliner Beratungsstelle Queer Leben erklärt, dass queere Menschen häufig Symptome psychischer Leiden entwickeln, um Ausgrenzung, Diskriminierung und Leidensdruck zu kompensieren: „Wenn beispielsweise eine betroffene Person aufgrund einer Sozialphobie weniger das Haus verlässt, dann ,schützt‘ ihre Psyche sie in diesem Fall vor weiteren sozialen Situationen, in denen es zu Diskriminierung kommen könnte. Ebenso kann eine Essstörung die Körperdysphorie bei einer trans* Person lindern, weil ein androgyner Körper eventuell beim Passing hilft.“
Mehr Suchterkrankungen in der Berliner Community?
Warum jedoch scheinen manche psychische Leiden in der queeren Community stärker vertreten als andere? Diplompädagoge Conor Toomey leitet bei der Schwulenberatung Berlin den Bereich psychologische Beratung, Sucht- und HIV-Beratung und erzählt SIEGESSÄULE, dass die seelischen Leiden der Ratsuchenden breit gefächert sind. Trotzdem hat er den subjektiven Eindruck, dass in der Berliner Community Suchterkrankungen wie Essstörungen oder Substanzabhängigkeit vermehrt auftreten. Über die Gründe hierfür könne man nur Vermutungen anstellen, sagt Conor. Dass zum Beispiel unter queeren Männern Essstörungen keine Seltenheit zu sein scheinen, könnte, neben anderen Faktoren, auch mit der stark ausgeprägten Körperkultur in manchen schwulen Kreisen zu tun haben.
Suchtmittel hingegen würden oft eingesetzt, um Stressgefühle zu verringern: „Sich Mut anzutrinken, um jemanden kennenzulernen, oder Substanzen zu sich zu nehmen, um bei sexuellen Kontakten Scham zu reduzieren, stellt für viele eine naheliegende Lösung dar.” Außerdem werden an queeren Treffpunkten wie Clubs und Bars oft Suchtmittel konsumiert. Besonders Alkohol funktioniert als soziales Schmiermittel, da er die Kontaktangst reduziert.
Doch die Situation ist im Wandel: Während Conor zufolge noch vor zehn Jahren 80 Prozent der Hilfe suchenden queeren Männer in seine Suchtberatung kamen, weil sie mit einer Alkoholproblematik zu kämpfen hatten, haben mittlerweile 50 Prozent der Besucher ein Problem mit sogenannten ChemSex-Drogen: Substanzen wie Crystal Meth, GHB, GBL, Mephedron oder Ketamin. Grund für die gestiegenen Zahlen in diesem Bereich sei vor allem der (oft online) gemeinsam geplante und verabredete Konsum dieser Drogen als normalisierter Teil einer bestimmten schwulen Sex- und Feierkultur.
Folgen erlebter Gewalt
Wie die lesbische Initiative RuT berichtet, die in Berlin unter anderem psychosoziale Beratung anbietet, sei bei queeren Frauen die Problematik sexualisierter Gewalt und deren psychische Folgen oft ein großes Thema. Laut aktueller EU-Umfragen sind Frauen immer noch stark von Gewalt betroffen: Jede Zweite habe in ihrem Leben schon körperliche oder sexualisierte Gewalt erfahren.
Gerade bei derart sensiblen Themen kann es Betroffenen schwerfallen, sich Hilfe zu suchen – auch aufgrund der eigenen Schuldfrage und des sozialen Stigmas. Wenn sie es doch tun, halten viele ihre queere Identität geheim: „Es kann schwierig sein, in psychiatrischen Einrichtungen über bestimmte queere Themen zu sprechen oder sich zu outen, wenn der Schutzraum nicht gegeben ist“, erklärt Conor. „Ich kenne Fälle von Männern, die drei Monate lang Gruppentherapien besuchten, ohne dort ein einziges Mal über das Schwulsein zu sprechen.”
Angst vor LGBTI*-Feindlichkeit im Gesundheitssystem
Von dieser Vorsicht gegenüber dem Gesundheitssystem und seinen Institutionen, darunter therapeutische oder psychiatrische Einrichtungen, berichten insbesondere auch viele inter*, trans* und nichtbinäre Personen. Kein Wunder, findet Mari Günther – denn noch immer existieren viele falsche Vorannahmen gegenüber Themen wie Trans*identität. Während Homosexualität noch bis 1992 als Krankheit galt, wird Trans*identität erst 2022, in der Neuauflage des Index der Krankheiten (ICD11) der Weltgesundheitsorganisation (WHO), nicht mehr offiziell als Krankheit gelistet sein. Auch in vielen psychiatrischen Einrichtungen werde noch immer veraltetes Wissen tradiert, sagt Mari: „Betrachtet man Trans*sein als Krankheit, fragt man natürlich gern nach den Ursachen der Krankheit. Als ein Erklärungsversuch wurde immer wieder die sogenannte traumainduzierte Transsexualität bemüht – das ist allerdings Quatsch, denn Untersuchungen bestätigen, dass man durch ein Trauma nicht ,trans* werden’ kann.”
Das Gesundheitssystem sei per se pathologisierend und trans*feindlich: Um Leistungen wie Hormontherapien oder geschlechtsangleichende Operationen zu erhalten, schreiben die medizinischen Richtlinien noch immer vor, dass trans* Personen sich psychodiagnostisch untersuchen lassen und eine Psychotherapie machen müssen. Oft machten trans* Personen in medizinischen Einrichtungen diskriminierende Erfahrungen durch Arzt- oder Fachpersonal, berichtet Mari. Auch große Institutionen wie die Charité hätten sich in den letzten Jahren immer wieder massiv trans*feindlich profiliert, beispielsweise durch Verwehrung von Hormonbehandlungen. Für Mari ist es ein Unding, dass es in einer Stadt wie Berlin noch immer keine psychiatrischen Stationen oder Krankenhäuser gibt, die eine ausgewiesene LGBTI*-Sensibilität entwickelt haben: „Dieser Mangel an Sensibilität betrifft trans* Personen in allen Versorgungsbereichen, jedoch besonders in den Bereichen Psychiatrie, Chirurgie und Urologie.“ Sie betreffe auch lesbische Frauen zum Beispiel im Bereich Gynäkologie oder queere Männer in Bereichen wie Infektiologie.
„Das ist tragisch“, sagt Mari. „Denn wenn die queere Population in Berlin aus Angst vor Diskriminierung das Versorgungsangebot nicht annimmt, besteht die Gefahr von Chronifizierungen, und das medizinische System wird seinem Versorgungsauftrag nicht gerecht.”
Derzeit gäbe es zwar einige wenige gute Versorger*innen, die aber sehr viel Arbeit bewältigen müssten. Aus diesem Grund veranstaltet Mari zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Gisela Wolf regelmäßig Fortbildungen für Psychotherapeut*innen – die Nachfrage ist groß. Im Oktober bringen sie außerdem die Publikation „Psychotherapeutische Arbeit mit trans* Personen“ heraus: das erste umfängliche Werk zu dem Thema, das von trans* und queeren Personen selbst geschrieben wurde.
Alternativen zu psychiatrischen Einrichtungen?
Dass viele queere Menschen eine psychiatriekritische Haltung teilen, kann also auch als eine gesunde Form des Selbstschutzes verstanden werden. Wer wiederholt Traumatisierungen in psychiatrischen Einrichtungen erfahren hat, sucht nach Alternativen. Eine davon ist das Berliner Weglaufhaus „Villa Stöckle”, das seit 1996 existiert und der deutschlandweit einzige „antipsychiatrische Fluchtort“ ist. Insgesamt 13 Bewohner*innen können hier für einen unbegrenzten Zeitraum leben, betreut von einem Team aus Sozialarbeiter*innen. Bedingung für eine Aufnahme: die betroffene Person ist wohnungslos und in einer psychischen Krise, die nachweisbar intensive Betreuung erfordert.
Aktivist*in und Sozialarbeiter*in Kim Wichera arbeitet seit 2005 im Weglaufhaus und erklärt das Konzept des staatlich finanzierten Kollektivs so: „Wir lehnen Diagnosen und rein biologische Erklärungen für psychische Krisen ab. Prinzipiell unterstützen wir auch keine Psychopharmaka, doch unseren Bewohner*innen steht es trotzdem völlig frei, diese zu nehmen oder mit unserer Hilfe abzusetzen. Unsere Arbeit soll transparent und kontrollierbar sein. So führen wir auch Dokumentationen, aber die Bewohner*innen können diese einsehen, verändern und besprechen.” Queere Identität ist hier kein Problem – das Team ist geschult im Umgang mit LGBTI*, viele der Mitarbeiter*innen sind selbst queer. Deshalb gibt es auch eine eigene FLTI*-Wohnetage, die für gewöhnlich durchgehend belegt ist.
Auch Morgan, 36, fand hier für acht Monate Zuflucht. Morgan ist inter*, identifiziert sich als nicht binär und Femme und leidet unter komplexen psychischen Traumata. Auf dem Berliner Wohnungsmarkt erfuhr Morgan aufgrund der eigenen körperlichen Behinderungen und der nicht binären Identität Ablehnung: Queere WGs waren oft nicht barrierefrei, vielen Wohnungslosen- und Sozialeinrichtungen war Morgans Identität zu „komplex”.
Auch im Gesundheitssystem machte Morgan Diskriminierungserfahrungen: „Es ist schwierig, eine gute Traumatherapeutin zu finden, die gleichzeitig sensibel für queere Themen ist. Meine Geschlechteridentität wird regelmäßig infrage gestellt und meine Polybeziehung als krankhaft angesehen. Meine jetzige Therapeutin zum Beispiel verwendet zwar meinen bevorzugten Namen, missgendert mich aber weiterhin.”
Den Kontakt zum Weglaufhaus stellte Morgan über einen Partner her. Der Alltag dort ist vor allem von Selbstbestimmung geprägt – ein festes Programm gibt es nicht. Den Sozialarbeiter*innen sei es wichtig, den Bewohner*innen auf Augenhöhe zu begegnen und gemeinsam herauszufinden, wie man ihnen aus sozialen und finanziellen Schwierigkeiten helfen könne.
Mittlerweile hat Morgan einen Platz in einer privaten WG erhalten – und findet langsam auch Anschluss in der queeren Berliner Community. Über Facebook entdeckte Morgan Selbsthilfegruppen für LGBTI* mit psychischen Beeinträchtigungen, wie das „Neuroqueer Meetup Berlin”. Hier gebe es das Verständnis und die Akzeptanz bezüglich der eigenen Identität, die die meisten Therapeut*innen Morgan bisher nicht geben konnten.
Queere Identität kann auch eine Ressource für mentale Gesundheit sein
Morgans Beispiel weist darauf hin, dass Queerness innerhalb des Gesundheitssystems immer noch nicht normalisiert ist. Dabei wird oft vergessen, dass queere Identität auch einen positiven Einfluss auf die mentale Gesundheit haben kann: „Aspekte wie Coming-out oder sogar eine HIV-Diagnose sind zwar Krisen, doch wenn diese gut bewältigt werden, stellen sie auch großartige Ressourcen dar”, erklärt Conor Toomey. „So setzt man sich als queerer Mensch oftmals eingehender als der Rest der Bevölkerung mit der Selbstdefinition oder der Frage nach Vorbildern auseinander.”
Queersein kann also einen Risikofaktor für psychische Probleme darstellen – genauso aber kann sie auch dabei helfen, das eigene Selbstbewusstsein zu stärken und Strategien zu entwickeln, die gegen andere psychische Leiden schützen können.
Elliot Zehms
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