Der „Schwulenparagraf“: Selbstmorde wurden als Erfolg verbucht
Über 100 Jahre lang sorgte der Paragraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Personen männlichen Geschlechts unter Strafe stellte, für Unglück und Leid. Im Juni jährt sich seine Abschwächung zum 50., seine Abschaffung zum 25. Mal
Die meisten Leser*innen dieser Ausgabe werden kaum noch wissen, was es einmal in Deutschland bedeutete, wenn die Polizei vor der Tür stand und Nachbarn, Eltern und Arbeitgeber wissen ließ, dass der Sohn, Kollege oder Bekannte ein „175er“ sei. Es drohten Gefängnis und ein Eintrag ins Strafregister, der eine Rückkehr in ein bürgerliches Leben vielfach verunmöglichte. Von den Demütigungen in der Haftanstalt ganz zu schweigen.
Psychiater schwurbelten von der Kastration als Therapie, Moralprediger priesen die Enthaltsamkeit von der Wiege bis zur Bahre. Lehrer beschworen die Gefahr durch Masturbation und enge Hosen. Meist waren es missgünstige Nachbarn oder Kollegen, die mittels anonymer Denunziation die Polizei und die Staatsanwaltschaft auf die Spur brachten. Der „aufmerksame Bürger“ (Blockwart) war stets bei der Hand, wenn es darum ging, anderen Menschen bis ins Schlafzimmer hinterherzuschnüffeln.
Der Paragraf 175 war das Instrument des deutschen Staates, um homosexuellen Männern das Leben zur Hölle zu machen: Wer beim Sex erwischt wurde, landete vor dem Richter.
Bis 1969 galt in der Bundesrepublik das Totalverbot, wobei man bezeichnenderweise noch die Variante des Strafgesetzes verwendete, die von den Nationalsozialisten in ihrem Sinne 1935 optimiert worden war: besonders harte Strafen für Männer, die mit noch nicht volljährigen Partnern Sex hatten, Verbot der Prostitution und einiges mehr.
Die DDR hatte kein eigenes sozialistisches Strafgesetz entwickelt, sondern vertraute auf den Sachverstand des kaiserlichen Deutschlands und nutzte den Homosexuellenparagrafen aus dem Jahre 1871. „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt“ sieht anders aus. Vollstreckt wurde der „Schwulenparagraf“ vor allem im Westen, die „Stasi“ hatte andere Sorgen als Genossen mit einem Hang zum Analverkehr.
1962 wurden in der Bundesrepublik 3.098 Männer verurteilt. Teilweise dieselben Polizeibeamten, die vor 1945 der Gestapo zu Diensten gewesen waren, jagten weiter ihre Opfer. Durch „intensive Befragungen“ bekamen sie Einblicke in Freundeskreise, und aus einer einzigen Anzeige konnte sich leicht eine – von der Boulevardpresse freudig begleitete – Hetzkampagne gegen ein Dutzend Männer entwickeln.
Selbstmorde der Betroffenen waren nicht selten und wurden von Polizei, Staatsanwaltschaft, Journalisten und Politikern als Erfolg verbucht. Die institutionalisierte Menschenjagd im Dienste der freiheitlich demokratischen Grundordnung!
Das Bundesjustizministerium wollte das Gesetz Anfang der 1960er-Jahre noch weiter verschärfen – doch dem stand der europaweite Wille zur Entrümpelung des Strafgesetzbuches im Weg. Als dann 1968 die DDR das Totalverbot des Männersexes aufhob, sah sich die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD genötigt, ebenfalls eine Reform in die Wege zu leiten. Dies erfolgte exakt 100 Jahre, nachdem der Paragraf 175 – zunächst in Preußen – Rechtsgeltung erlangt hatte.
Und was für eine Reform war der Groko 1969 gelungen! Mit 21 Jahren durfte der männliche Bundesbürger sich für gleichgeschlechtlichen Sex begeistern, aber: männliche Sexarbeiter wurden weiterhin bestraft, und wenn zwei Jungs sich mit 16 kennenlernten, so konnten sie Sex haben, bis sie 18 wurden, mussten dann drei Jahre enthaltsam sein, um schließlich mit 21 sich wieder legal vereinen zu können. An dieser Regelung hatten die Mitarbeiter des Bundesjustizministeriums sicher lange gefeilt.
Es dauerte bis zum Jahre 1973, dass einer Mehrheit von Abgeordneten im Bundestag auffiel, dass das alles ein wenig blöd und lebensfern war. Es folgte die Abänderung des „Schutzalters“ auf 18 Jahre. Denn der deutsche Staat schützt besonders gerne ungefragt und ungebeten. 1994 schließlich erfolgte die endgültige Streichung des Paragrafen 175 aus dem Strafgesetzbuch – aber nicht etwa aus Überzeugung, sondern weil die DDR „ihren“ Schwulenparagrafen bereits 1988 entsorgt hatte und die Angleichung der Rechtsverhältnisse in Ost und West Teil des Einigungsvertrages gewesen war.
Florian G. Mildenberger
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