LGBTIQ* im Camp Moria: „Man ist nirgendwo mehr sicher“
In Lagern wie dem berüchtigten Camp Moria auf Lesbos warten Geflüchtete unter menschenunwürdigen Bedingungen auf ihre Asylanhörungen – für queere Geflüchtete ist die Lage dort besonders gefährlich. Vincent Lindig war vor Ort
Ahmed (Name von der Redaktion geändert) kommt aus dem Irak und sitzt in einem kleinen Zimmer in Mytilene, der Hauptstadt der Insel Lesbos. Er ist gerade 21 geworden und schon seit mehreren Monaten in Griechenland. Ahmed ist homosexuell und musste deshalb seine Heimat verlassen: „Im Irak gilt Homosexualität als haram, als Sünde. Mein Vater schlug mich jeden Tag. Er hasste mich für meine Sexualität. Ich konnte dort nicht bleiben“, sagt er. Ahmed machte sich über die Türkei auf den Weg nach Griechenland. Die wenigen Kilometer, die beide Länder voneinander trennen, legte er in einem Dingi, einem kleinen Beiboot, zurück wie so viele andere Geflüchtete.
Auf Lesbos landete Ahmed im berüchtigten Camp Moria und musste monatelang auf seine Asylanhörung warten. In dieser Zeit fanden ein paar Iraker und Syrer im Camp heraus, warum er geflohen war. Sie bedrohten ihn mit Messern, Ahmed musste aus dem Flüchtlingscamp fliehen.
Unmenschliche Zustände
Die griechische Insel Lesbos steht wie wohl kein anderer Ort für den Umgang der EU mit Geflüchteten, die Schutz vor Verfolgung oder ein besseres Leben suchen. Die Grenze zwischen Griechenland und der Türkei ist im Grunde eine Grenze zwischen Europa und dem Rest der Welt. Hunderttausende machen sich aus Afrika, Asien, dem Mittleren und Nahen Osten auf den Weg, um hier europäischen Boden zu betreten. Die Gründe für die Flucht sind so unterschiedlich wie die Menschen, die hier ankommen.
Camp Moria hat international einen schlechten Ruf und rückt immer wieder durch mangelnde Sicherheit, katastrophale medizinische Versorgung und chaotische Zustände in den Fokus der öffentlichen Aufmerksamkeit. Wegen massiver Überbelegung – Moria ist für 3.000 Menschen ausgelegt, zurzeit werden über 7.000 im Camp vermutet – bildete sich das informelle Olive Grove Camp. In Olivenhainen neben dem offiziellen Camp erstreckt sich eine Ansammlung von selbst gebauten Behausungen aus Zeltplanen und Reissäcken. Die Wege sind unbefestigt, sanitäre Anlagen oder eine Wasserversorgung existieren nicht. Die Menschen schlüpfen durch große Löcher im Zaun von Camp Moria, ein paar Meter entfernt stehen Soldaten und Polizisten an einem großen Tor. Kinder spielen auf dem nackten Boden, im Winter wird es hier bitterkalt und bei Regen verwandeln sich die Wege in Sturzbäche. NGOs wie Ärzte ohne Grenzen oder Oxfam kritisieren die EU immer wieder für solche Zustände – geändert hat sich seit Jahren nichts.
Ahmed suchte wie viele andere Schutz in Europa und fand das Chaos und die Rechtlosigkeit von Moria. Mehr als einmal wurde er innerhalb des Camps bedroht, bevor er sich entschloss abzuhauen. „Ich wurde geschlagen, und sie hielten mir ein Messer an den Hals, diese Leute wollten mich umbringen. Ich konnte nicht in Camp Moria bleiben, also ging ich einfach los. Ich landete auf der Straße, ohne Geld und ohne einen Platz zum Schlafen.“
Queere Geflüchtete sind besonders betroffen
Ahmed hatte Glück im Unglück: Über Umwege bekam er Kontakt zu einer kleinen Organisation, die sich um die Bedürfnisse und die Sicherheit von queeren Geflüchteten kümmert, Lesvos LGBTIQ+ Refugee Solidarity. Ruby, eine vergnügte 24-jährige Britin, ist die leitende Koordinatorin der Organisation. Sie kam 2017 auf die Insel, um eine Freundin zu besuchen, die sich bei Lesvos LGBTIQ+ Refugee Solidarity engagierte. Ruby blieb, als die vielen Freiwilligen nach dem Sommer nach Hause gingen. Inzwischen ist sie über anderthalb Jahre am Stück aktiv und kümmert sich um etwa 30 queere Geflüchtete.
Die Organisation bietet Unterstützung bei juristischen Fragen, Arztbesuchen sowie Geldproblemen. Sie sorgt für Aufmunterung an schlechten Tagen und bildet eine überlebenswichtige Gemeinschaft. Denn Lesbos ist eine kleine Insel, viele aus Camp Moria fahren fast täglich in die Hauptstadt Mytilene. Das macht die Sicherheit im Alltag zum schwierigsten Teil ihrer Mission, sagt Ruby: „Wenn man in Camp Moria einmal als queer identifiziert wurde, ist man eigentlich nirgendwo mehr sicher. Man kann natürlich versuchen die großen Straßen zu vermeiden und nur in der Gruppe rauszugehen. Das Sicherste ist aber, gar nicht erst draußen zu sein. Deshalb setzen wir uns dafür ein, dass unsere Leute nach Athen verlegt werden: Dort ist es einfacher, anonym zu sein.“
„Wenn man in Camp Moria einmal als queer identifiziert wurde, ist man eigentlich nirgendwo mehr sicher. Man kann natürlich versuchen die großen Straßen zu vermeiden und nur in der Gruppe rauszugehen. Das Sicherste ist aber, gar nicht erst draußen zu sein.“
Ihre Organisation stellt Ahmed ein Zimmer zur Verfügung und hilft ihm, die mentale und psychische Belastung von Isolation und ständiger Bedrohung auszuhalten. Ahmed kennt die Situation auf den Straßen und ist dort schon einmal den Männern über den Weg gelaufen, die ihn in Camp Moria bedroht haben. „Es ist eine kleine Welt hier, sie werden dich finden. Also gehe ich nicht viel raus. Ich esse und schlafe, das war’s. Aber in Camp Moria haben queere Leute schlimme Probleme mit anderen Geflüchteten. Sie können dort überhaupt nicht frei leben. Wenn sie in den Augen der anderen etwas Falsches tun, werden sie getötet“, sagt Ahmed mit einem Schulterzucken.
Inzwischen ist er selbst zu einem freiwilligen Helfer geworden: „Ich arbeite als Übersetzer für Arabisch, wenn die Leute von der Organisation mich brauchen. Ich will etwas zurückgeben, denn mir wurde so viel geholfen. Ruby war für mich da, als es mir nicht gut ging, als ich kein Geld hatte und keine Ahnung, wie es weitergehen soll. Deshalb will ich dabei helfen, noch mehr Leuten wie mir unter die Arme zu greifen. Aber meine Arbeit kann nur einen kleinen Teil von dem zurückgeben, was ich an Hilfe und Unterstützung erfahren habe.“
Alle Zeichen stehen auf Abschreckung
Der fehlende politische Wille der EU, Geflüchteten im Jahr 2019 einen fairen Zugang zu einem Asylverfahren zu gewähren und damit geltendes Recht durchzusetzen, manifestiert sich in den Zuständen auf Lesbos – und nicht nur hier. Vor Italiens Küsten werden private Seenotrettungsmissionen kriminalisiert und Häfen für Schutzsuchende blockiert. Im vergangenen Jahr starben auf dem Mittelmeer laut Auskunft des Flüchtlingshilfswerks UNHCR mehr als 2.200 flüchtende Menschen bei der Überfahrt nach Europa. Die Bilder und Berichte aus den Flüchtlingslagern im Bürgerkriegsland Libyen, in denen lokale Milizen zu offiziellen Handlangern der EU werden, kennt inzwischen jeder.
Solange alle Zeichen auf Abschreckung stehen und Zustände wie in Camp Moria zumindest geduldet werden, sind junge Frauen, Kinder und queere Geflüchtete der entstehenden Rechtlosigkeit besonders ausgeliefert. Der Umgang mit Geflüchteten ist keine politische Frage, sondern eine der Menschlichkeit.
Am Ende des Gesprächs schaut Ahmed plötzlich hoch und lächelt: „Im Irak gibt es ein Sprichwort: Das Leben kann nicht immer süß schmecken, sonst weißt du es nicht mehr zu schätzen. All das hier wird vorübergehen, und ich versuche, jedem Menschen mit einem Lächeln zu begegnen."
Der freie Journalist Vincent Lindig besuchte Lesbos im Rahmen einer privaten Recherche. Durch einen Freund, der vor Ort regelmäßig mit einer NGO arbeitet, konnte er erste Gespräche organisieren
Organisation LGBTIQ+ Refugee Solidarity
Spendenkonto:
borderline-europe e.V.
GLS Bank, Bochum
IBAN: DE11 4306 0967 4005 7941 00
BIC: GENODEM1GLS
Reference: LGBTIQ Lesvos
Folge uns auf Instagram