Wie queer ist Kino heute?
Sind LGBTI angesichts von Publikumsmagneten wie „Bohemian Rhapsody“ und einer Vielzahl queerer Serienheld*innen nicht längst ausreichend repräsentiert? Axel Schock über queere Sichtbarkeit im Kino
11.02.19 – Als 1987 die Teddy Awards erstmals verliehen wurden, diente die Auszeichnung nicht nur dazu, Filme zu prämieren – ebenso sollte queeres Leben breitenwirksam sichtbar gemacht werden. Wie aber ist es heute um die Sichtbarkeit und Darstellung von LGBTI in Film und Fernsehen bestellt? Sind wir angesichts von Publikumsmagneten wie „Bohemian Rhapsody“ und einer Vielzahl von queeren Serienheld* innen nicht längst ausreichend repräsentiert? Und welche Debatten bestimmen mitlerweile das queere Kino? SIEGESSÄULE-Autor Axel Schock gibt Antworten
Seien wir ehrlich: Für queere Cineasten ist Berlin das Paradies. Keine Stadt in Deutschland verfügt über so viele Leinwände, in keiner anderen starten übers Jahr so viele neue Filme und damit auch so ziemlich alle, die fürs queere Publikum interessant sein könnten. Mit dem Xenon haben wir sogar eine Spielstätte, die rund ums Jahr die Community mit einem ausgewählten Programm versorgt. Und wem dies alles nicht reicht: Abseitiges, Historisches, Brandneues für queere Augen, Herzen und Sinne ist zudem in diversen Sonderreihen, bei Events wie dem Pornfilmfestival und nicht zuletzt bei der Berlinale zu finden.
Um einen Eindruck davon zu bekommen, wie sehr sich die Filmwelt verändert hat, genügt ein Blick in die Berlinale-Sektion Panorama, die in diesem Jahr Jubiläum feiert. Zusammen mit seinem Mitarbeiter Wieland Speck hatte ihr Begründer Manfred Salzgeber früher mühselig auf der ganzen Welt nach lesbisch-schwulen Filmen Ausschau gehalten. Manchmal musste man sich mit homoerotischen Andeutungen, dem Kurzauftritt einer schwulen Figur oder technisch eher lausigen Produktionen begnügen. Viel mehr war in den 80er-Jahren oftmals noch nicht drin.
Und heute? Mittlerweile werden so viele sehenswerte, künstlerisch hochwertige Filme mit queeren Stoffen und Charakteren produziert, dass es der Großteil gar nicht in unsere Kinos schafft und nicht einmal mehr auf DVD oder zu den Streamingportalen.Leben wir also in jenem queeren Filmparadies, von dem wir so lange träumten? In dem LGBTI nicht nur bemitleidenswerte Randfiguren oder fiese Typen spielen, sondern Geschichten erzählen, die so vielfältig sind wie die Community nun einmal ist?
Ein kurzer Blick auf die letzten Kinomonate lässt kaum einen anderen Schluss zu. Von „Love, Simon“, „Sorry Angel“ und „Mario“ bis zu „Colette“, „The Favourite“ und dem mit dem Silbernen Bären ausgezeichneten „Die Erbinnen“ – queere Filme hatten nicht nur einen festen Platz in den Arthouse-, sondern auch in den Multiplex-Kinos.
Mit „Bohemian Rhapsody“ gab’s zudem einen veritablen Blockbuster. Das Biopic über Freddie Mercury gilt mit einem weltweiten Einspielergebnis von bisher rund 850 Millionen Dollar als der kommerziell erfolgreichste LGBTI-Film aller Zeiten – erfolgreicher als „The Birdcage“ oder „Brokeback Mountain“. Dieser breitenwirksame Kassenerfolg hat seinen Preis, finden manche Kritiker*innen. Für die einen ist der Film-Freddie zu wenig schwul, die Beziehung zu seiner Verlobten Mary zu sehr in den Mittelpunkt gerückt, und sie sprechen von „Straight-Washing“. Andere hingegen monieren, dass das lebenslange Ringen mit seiner Bisexualität getilgt und der Queen-Sänger nunmehr unberechtigt als schwuler Mann porträtiert wird.
Auch der belgische Filmemacher Lukas Dhont sah sich für sein Debüt „Girl“ extremen Reaktionen ausgesetzt. Einerseits gab’s jede Menge Preise, darunter die Queer Palm der Filmfestspiele von Cannes und den European Film Award. Andererseits kritisierten ihn trans* Organisationen für die – ihrer Ansicht nach – wenig hilfreiche Fokussierung auf den Wunsch der jugendlichen Hauptfigur nach einer medizinischen Transition, also der operativen Angleichung ihres Körpers. Letztlich sah sich die Primaballerina Nora Monsecour, auf deren Leben der Film beruht, genötigt, dem Filmemacher schützend zur Seite zu springen.
Und während in einem Teil der Welt die Darstellung von LGBTI derart kritisch und penibel unter die Lupe genommen wird, wundert man sich anderswo über derartige Luxusprobleme. Denn auch im 21. Jahrhundert gibt es immer noch Länder und Communitys, deren queere Filmgeschichte noch ein gänzlich unbeschriebenes Blatt ist. „Rafiki“ aus Kenia beispielsweise ist nicht einfach nur ein wunderbarer, farbenfroher lesbischer Liebesfilm, es ist überhaupt der erste queere Film des Landes. Und mit „Carmen und Lola“ gibt es nunmehr die erste lesbische Lovestory aus der Roma-Community. Auch im Kosovo wurde mit „The Marriage“ erstmals eine schwule Geschichte auf die Leinwand gebracht: Ein Mann beugt sich dem Druck von Familie und Gesellschaft und heiratet eine Frau, statt seinem Geliebten nach Paris zu folgen. In Deutschland wäre eine solche Geschichte allenfalls als historisches Drama zu erzählen. Im Kosovo wie auch in den benachbarten Ländern sorgte der Film hingegen für hitzige Diskussionen.
„Für die Zuschauer in Westeuropa mögen diese Konflikte überholt erscheinen“, sagt die serbische Filmkritikerin und Mitarbeiterin des Belgrader LGBTI-Filmfestivals Lazara Marinkovic, „doch er beschreibt sehr genau die verzweifelte Situation von schwulen Männern in dem von patriarchalen Gesellschaftsstrukturen und rigiden, traditionalistischen Moralvorstellungen geprägten Balkan.“ Manchmal genügen nur wenige Hundert Kilometer, um einen Film bzw. die Darstellung von Schwulen und Lesben in einem völlig anderen Licht erscheinen zu lassen.
Wie aber ist es um queere Filme aus Deutschland bestellt? Weil hierzulande kaum ein Kinofilm ohne Filmförderung oder Beteiligung eines Fernsehsenders produziert wird, scheitern viele queere Filmprojekte bereits bei den dort Verantwortlichen. Doch es kommt Bewegung in die verknöcherten Strukturen. „Heute finden wir wesentlich offenere Ohren als noch vor zehn Jahren. Doch wir sind längst nicht am Ziel“, sagt die Berliner Filmemacherin und Drehbuchautorin Kerstin Polte. Worauf sie überhaupt keine Lust mehr hat: queere Stoffe immer nur als Problem oder Konflikt zu erzählen. Mehr fällt den Entscheidungsträger*innen bei LGBTI-Stoffen und -Figuren nämlich meist nicht ein.
In ihrem ersten, auf ein breites Publikum zielenden Kinofilm „Wer hat eigentlich die Liebe erfunden?“ geht Polte deshalb einen, wie sie sagt, „subversiveren Weg“: Sie hat eine lesbische Liebesgeschichte samt Sexszene gewissermaßen ganz beiläufig untergeschoben, und zwar erfolgreich. Das unter anderem mit Corinna Harfouch prominent besetzte Kinodebüt wurde Ende Januar mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichnet.
Doch das beste Format, um die Gesellschaft in ihrer ganzen Bandbreite, also auch deren queeren Anteil, abzubilden, ist für Kerstin Polte die Fernsehserie mit ihrem entsprechend großen Figurenensemble. Konsequenterweise entwickelt Polte daher mit ihrer Firma Serienwerk unterschiedlichste Serienformate – auch solche mit queeren Figuren, wie etwa die Mockumentary „Robert sieht rot“ um einen trans Mann. Polte macht sich aber keine Illusionen: Eine solche Serie wird in absehbarer Zeit zumindest von einem öffentlich-rechtlichen Sender wohl nicht produziert werden. In den Redaktionen der ARD-Anstalten und des ZDF wird, wie bei den privaten Sendern, vor allem auf Quote geschielt. Und Masse bedeutet immer auch Konsens. „Das Vielfältige, Bunte, Nischige hat da wenig Chancen“, sagt Polte.
Wie es anders geht, machen die neuen Player auf dem Medienmarkt vor. Mit den Eigenproduktionen von Netflix, Amazon Prime Video, Sky & Co. – Serien wie „Sense 8“, „Dogs of Berlin“, „Transparent“ oder „Eastsiders“ – scheint in Erfüllung gegangen zu sein, was lange als geradezu utopisch galt. Queere Figuren, wohin man schaut, mehr noch: ihre Sexualität und Identität sind sichtbar, ohne zum Selbstzweck zu werden, ihre Charaktere sind vielschichtig und können deshalb auch richtig fies und böse sein, ohne gleich als homophob missverstanden zu werden. Allein Netflix kam 2018 auf 88 queere Serienheld*innen.
Der Erfolg der Streamingdienste hat die hiesige Medienlandschaft unruhig werden lassen. Wenn’s gut läuft, lassen sich die verantwortlichen Produzent*innen, Redakteur*innen und andere Entscheidungsträger*innen mitreißen und finden den Mut, zum Beispiel auch innovativere, radikaler erzählte Geschichten auf die Leinwand und den Bildschirm zu bringen – und damit einhergehend auch für mehr Sichtbarkeit von queeren Figuren und Geschichten zu sorgen. Denn ob im Fernsehen, im Kino, in den Printmedien, im Radio oder in der Werbung – LGBT sind in Deutschland in allen Medienbereichen immer noch zu wenig präsent.
Ein erster Schritt, so der Berliner Drehbuchautor und Regisseur Kai S. Pieck, muss deshalb sein, für diskriminierungsfreie Arbeitsverhältnisse in den Medien zu sorgen. „Denn je mehr sichtbare Diversität es unter Kreativen gibt, umso homogener werden diversitäre Themen und Inhalte Einzug in die hiesige Produktionslandschaft halten.“ Erst wenn Minderheiten wie LGBTI repräsentativ über Personalfragen, Inhalte und Themen mitentscheiden können, wird es seiner Ansicht nach selbstverständlicher werden, die tatsächlichen Lebenswirklichkeiten und die gesellschaftliche Vielfalt auch medial abzubilden.
Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Kai S. Pieck hat deshalb die Queer Media Society initiiert, ein Netzwerk von queeren Medienschaffenden, das sich für mehr Sichtbarkeit und Präsenz von LGBTI in allen Medienbereichen einsetzt. Die Kick-off-Veranstaltung, auf der das neu gegründete Netzwerk seine Anliegen erstmals der Branche vorstellen wird, findet am 11.02. während der diesjährigen Berlinale statt. Werden sich Produzent*innen, Regisseur*innen, Drehbuchautor*innen, Senderverantwortliche also bald mit einer LGBTI-Quote auseinandersetzen müssen?
Dass eine solche Forderung keineswegs gaga und unrealistisch ist, dafür genügt ein Blick nach Großbritannien. Die BBC hat sich im Rahmen von Diversity-Standards vorgenommen bis 2020 – entsprechend dem geschätzten Bevölkerungsanteil – eine Acht-Prozent-LGBT-Quote zu erreichen. Das gilt gleichermaßen für die Beschäftigten wie auch für Sendungsinhalte. In den USA wiederum hat die Organisation „Gay and Lesbian Alliance Against Defamation“ (GLAAD), die die Darstellung von LGBT in den Mainstreammedien unter die Lupe nimmt, 2018 so viele queere Seriencharaktere in Prime-time-Spielfilmen und -Serien gezählt wie noch nie, nämlich exakt 75 von insgesamt 857 Figuren: also 8,8 %. Und da sind Streaming-Portale noch gar nicht einberechnet. Dann mal los, liebe deutsche Film- und Fernsehschaffende.
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