Reportage

Stirn bieten: Wie LGBTI* mit Gewalt im öffentlichen Raum umgehen

14. Juni 2018 Naomi Noa Donath
© Guido Woller

U-Bahn, Park, nächtliche Straßen – öffentliche Räume sind auch in Berlin für viele LGBTI* angstbesetzte Zonen. Naomi Noa Donath über den Umgang mit einer unbequemen Realität

„Ich habe mich erniedrigt und hilflos gefühlt“, erzählt die Aktivistin Verena Spilker, als sie, eine lesbische Frau, auf der Straße mal wieder von einem cis Heteromann sexuell belästigt wurde. „Ich habe ziemlich große Brüste, was im Sommer zu vielen unangenehmen Kommentaren und Blicken führt. Obwohl ich das schon seit Jahren erlebe, bin ich jedes Mal aufs Neue überrascht, und mir fehlen immer wieder die Worte.“ Trümmertunte Betty BücKse fuhr nachts S-Bahn, als eine Gruppe von Männern sie beschimpfte und ihr Schläge androhte. „Hau mir doch auf die Fresse“, rief Betty betrunken und ohne Angst zurück. Zülfukar Çetin, Sprecher des Türkischen Bundes in Berlin-Brandenburg, beschreibt: „Wenn ich als queere Person of Color durch Marzahn oder Zehlendorf laufe, habe ich gelernt, nicht zu gucken, weder nach rechts und links noch nach oben und unten. Um mich zu schützen vor Blicken, die mir sagen: Du gehörst hier nicht hin.“

Der Mythos von der toleranten Hauptstadt

Viele LGBTI*-Personen erleben Angestarrtwerden, Beleidigung, Belästigung, Bedrohung und Übergriffe auf der Straße – auch in Berlin. Der Mythos der toleranten Hauptstadt endet spätestens dann, wenn Menschen als queer sichtbar oder gelesen werden. Manche Schwule, Lesben und Bisexuelle versuchen zu vermeiden im öffentlichen Raum sichtbar zu werden. „Sie passen ihr Verhalten den heteronormativen Erwartungen an, tragen keine auffällige Kleidung oder Nagellack, kontrollieren ihre Körperbewegungen“, beschreibt Bastian Finke vom schwulen Anti-Gewalt-Projekt Maneo. Trans* Personen sind oft sichtbar, ob sie wollen oder nicht, und somit einem höheren Risiko ausgesetzt.

„Viele passen ihr Verhalten den heteronormativen Erwartungen an, tragen keine auffällige Kleidung oder Nagellack, kontrollieren ihre Körperbewegungen“

Eine Situation zu erleben, in der man belästigt oder bedroht wird, ist immer von Ambivalenzen geprägt: Wie weit verleugne ich mich selbst, um mich möglichst unversehrt der Situation zu entziehen? Oder sage ich lieber etwas und riskiere, dass die angedrohten Schläge real werden? „Ich war noch euphorisiert durch die wundervolle Nacht, die ich bis dahin erlebt hatte. Alkoholisiert ist man mutiger und schätzt die Situation falsch ein. Im Nachhinein war meine Reaktion ziemlich provokant und nicht besonders klug“, sagt Betty. „Aber es war instinktiv. Man kann sein eigenes Verhalten nur bedingt steuern.“

Wie soll ich mich verhalten?

Wie soll man sich aber in so einer Situation am besten verhalten? Sebastian Stipp, Ansprechperson für LGBTI* bei der Berliner Polizei, erzählt, dass Täter provozieren, um einen Vorwand zu bekommen, die Situation eskalieren zu lassen. Da reicht es schon, dass man sie duzt, berührt oder zurückbeleidigt, sagt Stipp. Er rät dazu, nicht auf Provokationen einzugehen, sondern Abstand zum Täter zu suchen und den Abstand auch verbal einzufordern. Den Täter zu siezen, Augenkontakt zu suchen, höflich zu bleiben und mit lauter Stimme zu sprechen: Bitte bleiben Sie stehen, bitte fassen Sie mich nicht an, ich kenne Sie nicht, ich möchte das nicht.

„Täter schreckt es mehr ab, wenn man Öffentlichkeit herstellt, als wenn man ruhig bleibt und nichts sagt oder macht.“

Stipp rät auch, dem Täter mit einer geraden Körperhaltung zu signalisieren: Ich bin selbstbewusst, ich mache mich nicht klein, ich füge mich nicht in die Situation, ich nehme die Opferrolle nicht an. „Täter schreckt es mehr ab, wenn man Öffentlichkeit herstellt, als wenn man ruhig bleibt und nichts sagt oder macht. Deswegen sollte man umstehende Leute gezielt ansprechen und sie aus der Anonymität reißen, ihnen beschreiben, was gerade passiert, und Handlungsaufträge vergeben.“ Zum Beispiel: Sie da mit dem blauen Pullover, ich werde hier gerade angegriffen, bitte helfen Sie mir, bitte rufen Sie die Polizei! Handlungsaufträge schrecken den Täter ab, weil sie signalisieren, dass man sich vorher Gedanken gemacht hat, wie man aus der Situation entkommen kann.

Gewalt mitten in der Öffentlichkeit

Laut Berliner Polizei gab es im Vergleich von 2016 zu 2017 einen leichten Rückgang der Gewaltdelikte gegen LGBTI*-Personen um vier Prozent. Auch die Übergriffe auf Fahrgäste in der BVG sind leicht rückläufig, sagt Petra Reetz, Sprecherin der BVG. „Es ist sicherer, in der U-Bahn zu sein als auf der Straße. Weil man nicht alleine ist und es immer Zeugen gibt“, erklärt sie. „Auf jedem Bahnsteig gibt es Notrufsäulen, wo man zu jeder Zeit ohne Warteschleife direkt mit einem Menschen verbunden wird, der rasant schnell Hilfe rufen kann.“ In der U-Bahn gibt es neben jeder Tür einen Knopf, mit dem man eine direkte Verbindung mit dem Fahrer herstellen kann, in Bus und Tram können die Fahrer*innen direkt angesprochen werden. „Habt keine Angst, euch an die Fahrer*innen zu wenden, sie rufen die Polizei“, sagt Reetz. „Wenn euch jemand schräg anguckt, gucken wir mit euch zusammen schräg zurück.“

„Wenn euch jemand schräg anguckt, gucken wir mit euch zusammen schräg zurück.“

Bastian Finke sieht das anders: „Gewalt findet nicht in den dunklen Ecken statt, sondern mitten in der Öffentlichkeit.“ Es sei nicht erkennbar, dass Videoüberwachung die Täter abschrecken würde. Einige LGBTI*-Personen sparen lieber etwas Geld, um nach der Party mit dem Taxi nach Hause fahren zu können.

„Öffentliche Verkehrsmittel sind für mich ein bedrohlicher Ort“, erzählt beispielsweise Debora Antmann, jüdische und lesbische Aktivistin. „Besonders in Fahrstühlen, also auf engem Raum, erlebe ich als sehr feminine Person Sexismus. Und sobald mein Davidstern sichtbar wird, Antisemitismus. Die Leute starren mich an, beleidigen mich.“

„Du wirst nicht nur als Frau erniedrigt, sondern weil du eine lesbische Frau bist.“

Lesbische Frauen erleben die doppelte Packung an Hasskriminalität, erläutert Maria Tischbier von L-Support, einem Opferhilfeangebot für gewaltbetroffene lesbische, bisexuelle und queere Frauen. „Die Ablehnung bezieht sich auf das Lesbischsein und zusätzlich gibt es einen sexualisierenden Aspekt: Du wirst nicht nur als Frau erniedrigt, sondern weil du eine lesbische Frau bist.“ Verena Spilker beschreibt: „Wenn ich Händchen haltend oder küssend mit einer Partnerin im öffentlichen Raum bin, gibt es oft blöde Kommentare von Männern, die gerne ‚mitmachen‘ wollen, die einen oder zwei beliebige, als weiblich wahrgenommene Körper benutzen wollen.“

Viele schwule Männer und lesbische Frauen zeigen Übergriffe nicht an

2017 wurden 164 Gewaltdelikte gegen LGBTI*-Personen in Berlin angezeigt, die Polizei geht von einer Dunkelziffer von 80 Prozent aus. Maneo hat für 2017 insgesamt 324 Fälle mit einem homo- oder transfeindlichen Hintergrund gemeldet, die meisten davon in Schöneberg. „Dass die Zahlen der Polizei mit unseren Zahlen nicht übereinstimmen, liegt daran, dass Betroffene keine Anzeige bei der Polizei erstatten und wir manche Fälle anders bewerten“, sagt Finke. „Ein Beispiel: Wenn ein schwuler Mann im Regenbogenkiez auf dem Weg zu einer Bar ist und von unbekannten Männern sexuell belästigt oder genötigt wird, in den Schritt oder an die Brust gefasst und dann beklaut oder beraubt wird, so ist das für uns nicht nur einfach Beschaffungskriminalität. Hier wird ein schwuler Mann zum Sexobjekt degradiert und entwürdigt. Das kann sehr wohl etwas mit Homophobie zu tun haben.“

Allerdings melden viele Männer diese Übergriffe nicht, zeigen sie nicht an. „Viele schwule Männer haben noch immer ein Problem damit, zu akzeptieren, dass auch sie Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sein könnten. Viele blenden es aus, spalten es ab, beispielsweise wenn sie sagen: ‚Die waren doch nur hinter meinem Geld her.‘“

„Viele schwule Männer haben noch immer ein Problem damit, zu akzeptieren, dass auch sie Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sein könnten.“

Auch viele Frauen zeigen Übergriffe nicht an oder melden sie nicht. Sie gehen mit Gewalterlebnissen anders um als Männer, sagt Tischbier. „Frauen sind introvertierter und klären das im Privaten. Sie nehmen sich nicht den Raum, über Gewalterlebnisse zu sprechen, und suchen sich keine Unterstützung von öffentlichen Stellen.“ Maneo und L-Support wünschen sich, dass ihnen Übergriffe gemeldet werden. „Denn jede Meldung trägt dazu bei, in der Mehrheitsgesellschaft das Bewusstsein dafür zu schärfen, dass Gewalt gegen LGBTI* noch immer ein großes Problem darstellt“, sagt Finke. Das Bundeskriminalamt hat für 2016 bundesweit 287 Übergriffe gegen LGBTI* gemeldet – wir zählten im selben Jahr 291 solcher Fälle, allein für Berlin. Das ist absurd, denn diese Zahlen werden von der Politik als Grundlage genommen, nichts zu ändern.“

Menschen, die im öffentlichen Raum mit vorurteilsmotivierter Hasskriminalität kämpfen müssen, werden von den Tätern nicht als Individuen gesehen, sondern entmenschlicht, als RepräsentantInnen einer Bevölkerungsgruppe erniedrigt. Das betrifft Menschen aufgrund der sexuellen Orientierung und der geschlechtlichen Identität. Das betrifft alle Frauen. Das betrifft genauso Menschen mit Dis*abilitys, Obdachlose, Schwarze Personen, People of Color, Jüd*innen, Muslim*innen und Rom*Nja.

Die queere Community ist auch kein „Safe Space“

Doch so wenig der Mythos vom toleranten Berlin im öffentlichen Raum stimmt, so wenig stimmt der Mythos von der queeren Community als Safe Space. Zülfukar beschreibt: „Wenn sich eine Person of Color als queer bezeichnet, aber kein queeres Outfit hat, dann wird sie vor allem in der weißen schwulen Community als potenziell homophob gelesen. People of Color werden heterosexualisiert, hypersexualisiert und exotisiert. Zum Beispiel geflüchtete Sexarbeiter, die mit weißen schwulen Männern Sex haben. Auf der einen Seite wird ihnen Zwangsprostitution unterstellt, sie werden heterosexualisiert. In anderen Kontexten werden geflüchtete Männer hypersexualisiert und gelten als potenzielle Vergewaltiger.“

Auch Debora erzählt, dass sie sich als Jüdin in queeren Kontexten oft fetischisiert fühlt. „Queere Personen finden es geil, eine Jüdin zum Anfassen und Ausfragen zu haben. Sie wollen die Welt von mir erklärt bekommen und stellen mir provokative Fragen. Das ist viel gewaltvoller als auf der Straße beschimpft zu werden.“ Gegen die Gewalt im öffentlichen Raum hat Debora eine Handlungsstrategie entwickelt: „Wenn ich angestarrt werde, bin ich laut und aggressiv, ich wehre mich und starre zurück, ich mache Sprüche. Das braucht viel Energie, aber das gibt mir auch enorm viel Energie. Das ist ein krasser Adrenalinkick für mich. Gerade als jüdische Frau ist es cool, wütend und aggressiv zu sein und dieses Bild von Jüd*innen als Opfer zu brechen.“

Es ist ok, nicht mutig zu sein

„Es ist auch unser öffentlicher Raum und wir wollen ihn uns zurückholen“, sagt Tischbier. „Wir müssen uns unbedingt sichtbar machen, wir sind auch Teil dieser Gesellschaft“, erklärt Finke. Denn auch wenn die Sichtbarkeit mit Risiken und Unsicherheit verbunden ist – nur durch sie können LGBTI*-Personen als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft wahrgenommen werden.

„Häufig reagiere ich nicht so, wie ich es gerne getan hätte. Dann erzähle ich das Ende der Geschichte für mich um, sodass es mich empowert und es somit eine mutige Version von mir gibt.“

Dennoch: „Es ist o. k., in einer Situation nicht mutig zu sein“, sagt Debora. „Häufig reagiere ich nicht so, wie ich es gerne getan hätte. Dann erzähle ich das Ende der Geschichte für mich um, sodass es mich empowert und es somit eine mutige Version von mir gibt.“

Auch Verena fand eine empowernde Form, um sich nicht hilflos und sprachlos zu fühlen. Sie entwickelte auf ihrer Online-Plattform Transnational Queer Underground die Kampagne „CA(S)H – Cards Against (Sexual) Harassment“. Das sind digitale Karten, die Menschen selbst gestalten und auf die sie alles schreiben oder malen können, was sie dem Täter in so einer Situation sagen möchten. Die Karten können ausgedruckt und mit sich geführt werden – um in einer entsprechenden Situation unterwegs nicht sprachlos zu bleiben. „Vielleicht hilft es, dass der Angreifer uns als Person mit Gefühlen wahrnimmt oder durch die Drohung Angst bekommt“, sagt Verena. Auf einer Karte, die ein/e Künstler*in aus Mexiko gestaltet hat, steht: „Ich fiste dich so lange, bis dein Arsch blutet“. Auf einer anderen Karte steht: „Heute bekommst du eine Karte, nächstes Mal ist es Pfefferspray“.

Egal, für welche Strategie man sich entscheidet, es ist wichtig, für sich selbst einen Weg zu finden, so damit umzugehen, dass man gesund aus der Situation herauskommt, ohne von den Erniedrigungen krank zu werden. Niemand muss mutig sein, niemand muss sich allein gelassen fühlen, niemand muss es hinnehmen, zum Opfer gemacht zu werden.

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