Das unterschätzte Stigma HIV
Ist die Diskriminierung von HIV-positiven Menschen nur noch eine Gruselgeschichte aus längst vergangenen Zeiten? Daniel Call erklärt, wie Betroffene nach wie vor stigmatisiert werden
Sehr schön die (unverbürgte) Anekdote, die der Barkeeper zu vorgerückter Stunde zum Besten gibt: Auf dem neunten Geburtstag seines Neffen kriegt dieser zufällig mit, dass der Onkel HIV+ ist. Das lässt den Knaben nicht los, er hakt nach, fragt den Erwachsenen Löcher in den Bauch, bis sich einer schließlich erbarmt und Erklärungsversuche startet. HIV sei eine Erkrankung, aber irgendwie doch nicht, damit könne man leben, ganz normal, gar alt werden – die um Schadensbegrenzung bemühte Gesellschaft steigert sich immer mehr in den Wahn, dem HIV+ das „positiv“ zu entlocken. Der Junge hört staunend und aufmerksam zu, und als Onkel sich später verabschiedet, drückt er ihm ein Wachsmalporträt in die Hand, was ihn in Sonnenschein und Blütenregen darstellt und über dem in bunten Lettern prangt: „HIF IST TOLL!“
Nun, so einfach ist es sicher nicht. Aber doch ist diese Geschichte eine schöne Metapher auf die Verdrängung, gar das Schönreden der HIV-Problematik in den letzten fünfzehn Jahren. Seit der Therapierbarkeit des Virus scheint die Gefahr erkannt, Gefahr gebannt, und der Rückweg zur Tagesordnung oberste Prämisse. Man kann es sich leisten, speziell im urbanen und akademischen Rahmen, das Virus tolerant zu thematisieren, sich gar bei einem Tässchen Tee damit zu brüsten, selbst einen Positiven zum Freundeskreis zu zählen, der ganz normal ist und auch völlig normal leben kann und normal damit umgeht – ja, sogar lachen kann man mit diesen Leuten! Und genau in jenem Parlieren verbirgt sich maßvoll subtil der stets mitschwingende Unterton, dass es sich bei „diesen Leuten“ um Unheilbare, gar („wisper, wisper“) Todgeweihte handelt.
Fängt sie da schon an, die schleichende Diskriminierung, die, aller Weltoffenheit zum Trotz, HIV-Infizierten immer noch entgegengebracht wird? Oder bei der frisch gebackenen Mutter, die ihre seit Langem schon positiv getestete beste Freundin dann doch lieber nicht alleine lässt mit dem Baby – für den „Fall der Fälle“? Wie man es dreht und wendet – dem Virus hängt stets etwas Schmutziges, Bedrohliches an. Wenn man sich auf die Suche nach Menschen begibt, die Diskriminierung aufgrund ihres Status erfahren oder erfahren haben, muss man schon sehr tief graben. Meist wird man von Betroffenen, also Infizierten, mit großen Augen angeschaut, die die Gegenfrage implizieren: „Diskriminierung – was ist das?“ Und tatsächlich ist es ja so, dass wir in unserer großstädtisch-elitären, weißen Prägung unterdes viel seltener bis gar keine Herabwürdigung erfahren – oder sie einfach ignorieren; weil wir es uns leisten können. Wir sind nicht die Schwarze Mutter im Township, der Geflüchtete im Wohnheim, der Stricher, der es für 20 Euro extra ohne Gummi macht. Wir sind Privilegierte. Wieso also ein Problem thematisieren, das uns zum Großteil maximal tertiär tangiert? Weil es, um zur Eingangsgeschichte zurückzukommen, eben nicht so einfach ist.
Tolerabel – solange geschwiegen wird
Roman* ist so ein Beispiel. Er ist ein Mann Mitte 30, Gymnasiallehrer in einer Kleinstadt nahe Münster, unterrichtet Sport und Mathematik und lebt offen schwul mit seinem Freund zusammen. Er ist in der evangelischen Gemeinde aktiv, in diversen Vereinen und voll integriert. Dass er vor neun Jahren positiv getestet wurde, behält er tunlichst für sich. „Das würde das ganze Gebäude einstürzen lassen“, sagt er im Gespräch mit SIEGESSÄULE und fügt, um Rechtfertigung bemüht, hinzu: „Das geht ja auch keinen was an. Wenn ich Krebs hätte, dann würde ich das ja auch nicht jedem auf die Nase binden.“ Okay, aber HIV ist nicht Krebs. Wovor fürchtet er sich, wo bei Medikamentierung und Werten unter der Nachweisgrenze auch keine Gefahr der Ansteckung besteht? „Glaubst du wirklich, dass die Eltern mir ihre Kinder zum Sport schicken würden? Wenn sich da einer was aufreißt und blutet und ich bin in der Nähe ... nicht auszudenken.“
Gut, mag man da sagen, er wird nicht diskriminiert, solange er die Fresse hält – aber wir befinden uns doch dort genau im Auge des Sturms. HIV ist in den meisten sozialen und beruflichen Zusammenhängen tolerabel, solange es nicht in Erscheinung tritt. Bloß ein Thema unter vielen, das man zu Kaffee und Keksen reicht. Mit pro plus berlin hat sich ein Verbund von AktivistInnen zusammengeschlossen, der gegen die Stigmatisierung von HIV und die Diskriminierung von Betroffenen vorgehen will. Der Anspruch des erst vor zwei Monaten gegründeten Vereins ist vorbildlich und hehr zugleich. „Wir wollen das Bild und die Situation von HIV-positiven Menschen verbessern, Ausgrenzung abschaffen und die Wahrnehmung durch die Gesellschaft der Realität, der aktuellen Lebenswelt von HIV-positiven Menschen anpassen“, führt Mitinitiator Christoph Schaal-Breite im Interview aus. Und wie soll das konkret aussehen? „Wir sind keine Selbsthilfegruppe. Wir sind keine Therapeuten. Wir sind ein Zusammenschluss von AktivistInnen und UnterstützerInnen, die präsent sein und Begegnungen zwischen HIV-positiven und HIV-negativen Menschen ermöglichen wollen. Durch diese Begegnungen sollen Ängste, Bilder, Vorurteile abgebaut und so Diskriminierung und Stigmatisierung abgeschafft werden.“ So weit, so gut, so ehrenhaft. Aber sehr konkret ist das nun nicht – ein altes Problem von Präambeln, die zunächst einmal argumentieren, was man alles nicht sein will, und sich dann in eher schwammigen Absichtserklärungen ergehen. Man muss dem Verbund jedoch zugutehalten, dass er sehr jung ist und sich in der Praxis noch nicht nachhaltig bewähren konnte.
Doch wie attackiert man die Realität? René* ist 35, Mediziner in Facharztausbildung, und seit sieben Jahren positiv. Ihm ist, wie er fast stolz berichtet, tatsächlich bislang noch niemand im Klinikalltag auf den Trichter gekommen, dass er schwul und infiziert ist. Wie bitte? In der modernen Medizin, die doch alle Übertragungswege und Ansteckungsgefahren durchdeklinieren kann, soll man als schwuler, positiver Mann nicht zu sich stehen können? Das ist doch ein bisschen weit hergeholt. „Beim Pflegepersonal ist Schwulsein kein Problem. Aber bei den Ärzten wirst du immer noch schief angeguckt, und wenn du Karriere machen willst, hast du als Schwuler geringere Chancen. Und mit HIV? Die finden ganz schnell irgendwelche anderen Gründe, dich rauszuschmeißen.“ Echt jetzt? Die Ärzteschaft als heteronormativer Block? Dystopie, ick hör dir trapsen. „Das kannst du mir jetzt glauben oder nicht – das erlebe ich jeden Tag.“
Es gibt keine verlässlichen Studien dazu, welche Berufssparten besonders diskriminierungsanfällig sind. Aber wie sollte man die auch erstellen? Die Diskriminierung ist von makabrer Subtilität, namen- und gesichtslos, weil sie aus der Furcht vor dem Outing mit den damit verbundenen Konsequenzen besteht. Weil man sich ziemlich genau ausmalen kann, was passiert, wenn man sich zur Infektion bekennt. Wer stellt sich schon freiwillig an den Pranger und statuiert an sich das Exempel? Der Bankangestellte aus Passau, die Kassiererin im Lidl, der Metzger aus Dinslaken? Und wer sich nun von uns saturierten Bildungsbürgern hochmütig über das Thema erhebt und es „Erwachsenen, die wissen müssen, was sie tun und wozu sie stehen“, zuschreibt, der sollte nicht vergessen, dass es erst wieder Obama war, der Positiven die Einreise in die USA gewährte – und wer weiß, was Trump im Schilde führt? Dass die Infektion, sobald man über den Tellerrand der eigenen Nation blickt, weltweit mit Ausgrenzung und Todesurteil gleichzusetzen ist.
Angar* ist 23 Jahre alt, er kommt aus Afghanistan. Er schläft mit Männern. Den Begriff „schwul“ umgeht er. Ihm gelingt ebenso das morbide Kunststück, einerseits seine positive Testung einzugestehen, sie aber andererseits komplett zu verleugnen. Dieser Status ist für ihn Science Fiction, er wurde zufällig entdeckt, aber dazu stehen könnte er niemals. Behandelt werden kann er momentan ohnedies nicht, er ist nicht krankenversichert. Die ekelhafte Kreisquadratur seiner Gesamtsituation zeigt sich, wenn er seine großen Träume schildert: einen Mann finden, der ihn heiratet und seinen weiteren Aufenthalt garantiert, und dann Lkw-Fahrer werden und boxen. Diese Sehnsucht nach Beständigkeit ist echt. Doch er hat nie gelernt sich anzuempfinden. Und er könnte als Bleibegrund niemals seinen HIV-Status oder seine sexuelle Orientierung angeben. Das würde ihn vor seinem Gott und seinen Leuten entehren. Selbst schuld? Durch Gott und Herkunft generaldiskriminiert – geht uns das überhaupt was an? pro plus berlin beschränkt sich, nach internationalen Einblicken befragt, auf seinen ausgewiesenen Wirkungsort Berlin. Der Verein versteht sich auch nicht als queere Veranstaltung – man will allumfassend sein, jeden einbinden, international, interracial, intergender. Freilich besteht in diesem Vorsatz die große Gefahr der Beliebigkeit – doch es ist ja zunächst als überaus honorabel zu werten, dass sich Leute vereinen, die einer verschatteten und totgeschwiegenen Thematik eine Stimme geben wollen.
Die echte Gefahr liegt nämlich vor allem darin, dass sich Menschen aus Angst vor Diskriminierung gar nicht erst testen lassen, wie Dr. Dirk Sander (DAH) im SIEGESSÄULE-Gespräch ausführt: „Die Stigmatisierungen, die mit HIV weiter verbunden sind – zum Beispiel: ,das ist bestimmt eine Schlampe gewesen’, ,HIV-Positive sind krank, sie können nicht arbeiten’ etc. –, veranlassen Leute eben gerade nicht dazu, sich rational mit ihrem eigenen sexuellen Verhalten auseinanderzusetzen und gegebenenfalls einen HIV-Test zu machen. Da blendet man sexuelle Risiken vielleicht lieber aus.“ Wie kann man das ändern? Bezüglich zu leistender Hilfestellungen hat Dirk konkrete Vorschläge: „Wir müssen Partei ergreifen, den Angreifenden ganz klar Grenzen aufzeigen und ihr Verhalten skandalisieren. Wir müssen schon im Kindergarten und den Schulen vermitteln, dass jeder und jede willkommen ist, so wie er oder sie ist, niemand ist weniger wert. Das müsste der Staat den Leuten auch mal vermitteln: Wir werden jede Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und der Sexualität ab sofort nicht mehr dulden. Weil es falsch ist! Wir brauchen vielleicht ein Ministerium für Antidiskriminierung.“
Zum Abschluss dieses Artikels sei mir ein persönliches Statement gewährt: Als mich die Redaktion anfragte das Thema „Diskriminierung HIV-Positiver“ zu behandeln, war ich mir einer überhaupt bestehenden Problematik keineswegs bewusst. Ich, als Journalist und Künstler arbeitend, habe diese auch nie wirklich erfahren. Aber die Gespräche, die ich führte, bei denen ich nachbohren musste, um überhaupt Informationen zu erhalten, zeigten mir sehr eindrücklich, dass da ein Berg bestiegen werden muss, um den wir uns perfekt herumdrücken. Wir haben für den Gipfelsturm noch nicht einmal Anlauf genommen. HIV ist der Dämon der Bürgerlichkeit. Ein Dämon, den wir uns noch lange nicht ausgetrieben haben.
*Namen wurden von der Redaktion geändert
pro-plus-berlin.de
berlin-aidshilfe.de
aidshilfe.de
iwwit.de
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