HIV-Epidemie in Russland und Osteuropa: Homofeindlichkeit verstärkt das Problem
Während weltweit die Zahlen der HIV-Neuinfektionen und Todesfälle durch HIV/Aids kontinuierlich sinken, bahnt sich in Russland und Osteuropa eine Katastrophe an. Statt mit erprobten Maßnahmen wie Prävention, Testprogrammen und HIV-Behandlung die Verbreitung des Virus einzudämmen, wird die Epidemie aus ideologischen Gründen sogar befeuert
Irgendwann habe er angefangen das Internet zu hassen, erzählt Jegor. Seine Englischkenntnisse sind zwar lückenhaft, reichen aber, um Webseiten von HIV-Organisationen in Großbritannien oder in den USA zu lesen. „Mir tat es gut, all diese Gesichter dort zu sehen und zu wissen, dass ich nicht alleine bin. Dass es da Männer gibt wie mich: schwul und HIV-infiziert, und dass sie dennoch optimistisch in die Zukunft schauen.“ Aber irgendwann, sagt der 29-Jährige, hätten ihn die Gesichter auf diesen Internetseiten der internationalen HIV-Organisationen nur noch aggressiv gemacht, und ihm sei schlagartig klar geworden: „Ich bin nicht wie die, so sehr ich mir das auch wünschte. Kein Positiver, der bei klarem Verstand ist, kann in Russland sein Gesicht für eine HIV-Kampagne hergeben.“ Außer man hat keine Angst davor, auf offener Straße zusammengeschlagen zu werden. „Uns verbindet nichts – außer dem Virus“, sagt Jegor. „Doch im Gegensatz zu den HIV-Positiven im Westen Europas wird es mich eines Tages töten.“
Während hierzulande über die Vergabe von HIV-Medikamenten zur Prophylaxe diskutiert wird, stehen sie in Russland nicht einmal allen bereits Infizierten zur Verfügung. Zwar weiß Jegor bereits seit drei Jahren um seine Infektion, doch erhält er bis heute keine HIV-Therapie. Seine Werte seien noch nicht schlecht genug, so die Begründung der Ärzte in seinem Bezirkskrankenhaus. Jegor hat da aber seine eigene Erklär- ung: die landesweiten Engpässe für die teuer importierten HIV-Medikamente. „In Sankt Petersburg hätte ich vielleicht eher eine Chance“, mutmaßt er. Doch Sankt Petersburg liegt eine Tagesreise entfernt, und so bleiben die Medikamente für ihn derzeit unerreichbar.
Jegor ist einer von inzwischen über einer Million Menschen, die in Russland mit HIV leben. Ein Prozent der Bevölkerung (und damit zehnmal mehr als in Deutschland) ist HIV-positiv. Während weltweit die Neuinfektionen zurückgehen – in den besonders stark betroffenen Ländern Afrikas sind sie seit 2010 um fast 30 Prozent gesunken –, explodieren die Zahlen in weiten Teilen Osteuropas und Zentralasiens. In Russland liegt der Zuwachs bei horrenden 85 Prozent. Das hehre Ziel von UNAIDS, dem gemeinsamen HIV/Aids-Programm der Vereinten Nationen, Aids bis 2030 weltweit zu beenden, droht in Osteuropa und Zentralasien zu scheitern. Auf einer gemeinsamen Fachkonferenz im Oktober in Berlin versuchten NGOs deshalb, auf diese „unbemerkte Epidemie“ aufmerksam zu machen und die Politik in die Verantwortung zu nehmen, damit diese Druck auf die Regierungen ausübt und die im Bereich HIV/Aids engagierten NGOs strukturell wie finanziell unterstützt. Für Sylvia Urban, Vorstand des Aktionsbündnisses gegen AIDS und der Deutschen Aids-Hilfe, ist der enorme Erfolg der HIV-Prävention in Deutschland ein Beleg dafür, wie „effektiv die Interaktion des Staates mit zivilgesellschaftlichen Strukturen sein kann“.
Doch genau diese Konzepte werden in Russland, und zunehmend auch in anderen osteuropäischen Staaten, abgelehnt. Über die Hälfte der HIV-Übertragungen in Russland passieren bei Drogenabhängigen. Doch Sucht gilt als individuelles, moralisches Versagen, das weder Solidarität noch Hilfe verdient. Spritzentauschprojekte, mit denen Infektionen verhindert werden könnten, sind kaum existent. Methadon-Programme sogar explizit verboten. Auch die Marginalisierung und Diskriminierung von Homosexuellen trägt zur Verbreitung des Virus bei. Seit Inkrafttreten des Gesetzes gegen die sogenannte Homosexuellenpropaganda ist es für Präventionsprojekte schwierig geworden, effektive Aufklärungsarbeit zu leisten. Sie sind zudem auf finanzielle Hilfe aus dem Ausland angewiesen. Doch das wird zunehmend komplizierter, da sich NGOs seit 2012 als „ausländische Agenten“ registrieren lassen müssen.
Nicht nur in Putins Russland, sondern auch in vielen anderen ehemaligen Ostblockstaaten dient die Homophobie dazu, die „traditionellen Werte“ zu feiern und sich gegenüber „dem verrotteten Westen“ abzugrenzen – mit bisweilen grotesken Auswirkungen. Da werden die Sextoy- und Pornoindustrie sowie die Kondomwerbung für die Ausbreitung von Aids verantwortlich gemacht (weil sie zu außerehelichem Sex ermutigten), oder HIV wird gleich als „größter Schwindel des 20. Jahrhunderts“ abgetan. Die Auswirkungen dieser fatalen Politik der Verleugnung, Ignoranz und Ausgrenzung hat Vadim Pokrowsky, Leiter des russischen Föderalen Aids-Zentrums, bereits beziffert: Er schätzt, dass sich die Zahl der Menschen mit HIV in Russland bis 2020 verdreifacht haben wird – auf dann über drei Millionen.
Axel Schock
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