Vor dem Pissoir sind alle gleich: Die Ausstellung „Fenster zum Klo“
Öffentliche Toiletten als schwule Treffpunkte haben einen schlechten Ruf. Zeit für eine Rehabilitierung, finden unser Autor Dirk Ludigs und der Künstler Marc Martin, dessen Ausstellung „Fenster zum Klo“ ab dieser Woche zu sehen sein wird
Auf der Gneisenauklappe lernte ich die erste Liebe meines Lebens kennen, an der Kottbusser Brücke habe ich zum ersten Mal jemanden gefesselt. Rathaus Neukölln, vor der Sparkasse, die Treppe runter, war jeden Sonntagmittag der Ort einer wilden Affäre mit einem jungen Mann türkischer Herkunft. Wir sprachen nie ein Wort, kannten uns nur durch das faustgroße Loch zwischen zwei Kabinen. Eines Sonntags blieb er weg und kam nie wieder. Was wohl aus ihm geworden ist? Und unvergesslich die Sommernächte an der Urbanklappe! Draußen: die Grünanlage mit dem Bäumchen, dessen drei Äste einen bequemen Sitz formten, der Ärger, wenn er schon besetzt war, die Joints und die Sixpacks, die manche mitbrachten. Drinnen: das Cruising im Pissoir und fürs private Tête-à-Tête das Damenklo, du musstest ruhig sein! Die Klappen an der TU-Mensa und in der Dahlemer Rostlaube: Wie viele Scheine haben sie Studierende wohl gekostet, weil sie wieder einmal ein Seminar verpassten? Mich wahrscheinlich das gesamte Studium.
Millennials verstehen nicht, wenn Ältere ihnen von Berliner Klappen vorschwärmen. Für sie ist schon die Vorstellung, auf öffentlichen Toiletten Sex zu haben, ein olfaktorischer Albtraum, eine wüste Erinnerung an Zeiten, in denen Homosexualität verboten und schwuler Sex unmoralisch war. In den 90ern verschwanden fast alle Klappen aus der Stadt, dem Senat wurde die Reinigung zu teuer. Die aseptischen City-Toiletten übernahmen ihre zugewiesenen Aufgaben für 50 Cent pro Viertelstunde, und die Schwulen, politisch auf dem Weg raus aus den Klappen und rein in die Standesämter, leisteten wenig Widerstand gegen den Abbruch ihrer jahrzehntelangen Orte einer Intimität, die es in dieser Form seitdem nicht mehr gibt.
Der in Frankreich geborene Fotograf und Künstler Marc Martin hat sich vorgenommen, die Klappen als schwule Orte zu rehabilitieren. In seiner Heimatstadt Paris schlossen sie sogar zehn Jahre früher als in Berlin. Seine eigenen ersten sexuellen Erfahrungen fanden noch in den öffentlichen Toiletten von Paris statt, da war er noch sehr jung und sicher habe ihn das geprägt, die öffentliche Toilette war Teil seines Coming-out-Prozesses. Auf den Klappen habe er zum ersten Mal erfahren, dass es „Typen gab wie mich“!
Klappen waren Orte der zufälligen sexuellen Begegnung, eine Form der Zwischenmenschlichkeit, die in unseren digitalen Zeiten auf der Roten Liste steht. In den Klappen trafen Junge auf Alte, Schwule auf Heteros, Reiche auf Arme, Weiße auf Schwarze. Die Trennwände gesellschaftlicher Konventionen endeten an der Klotür. Vorm Pissoir sind alle gleich. Das vielleicht Wichtigste an der Klappe ist zugleich das vielleicht am wenigsten Wertgeschätzte: Sie waren Orte, in denen promisker schwuler Sex nicht Teil der kapitalistischen Verwertungskette war. Man musste keinen Eintritt zahlen, kein Bier kaufen, keine privaten Daten preisgeben, keine Werbung gucken, um am erotischen Spiel teilzuhaben. Auch dieser Urkommunismus schwuler Sexkultur ist mit den Klappen für immer verschwunden.
Wie so vieles. Auf einem Pissoir wusstest du nie, ob der nächste Besucher kam, um zu pinkeln oder um zu wichsen. Klappen, sagt Marc Martin, kamen ohne Speisekarte. Besonders die Dating-Apps, die in unserer digitalen Welt das Geschäft der Klappen übernommen haben, sind dagegen nichts als Speisekarten. Du kennst sämtliche Vorlieben des anderen, bevor du dich überhaupt getroffen hast. Marc Martin sagt: „Natürlich sprachen wir auf der Klappe nicht über den letzten Film, den wir gesehen hatten. Aber es war ein Austausch, eine echte Kommunikation, in der es oft darum ging, wie weit ich mit jemand anderem gehen kann.“
Der Soziologe Martin Dannecker formulierte es auf einer Podiumsdiskussion einmal so: Nicht länger das Begehren formt unsere Sexualität in der digitalen Welt, sondern die Information. Was aber macht das mit schwuler Sexualität, wenn wir die Zufallsbegegnung ausschalten, die auf der Klappe die Regel war? Klappen boten die Chance, aus unserer eigenen Sex-Bubble auszubrechen, Dating-Apps hingegen sind Echokammern unserer sexuellen Fantasien. Das Dunkle, das Unbekannte, das einen so großen Teil dessen ausmacht, was wir als Erotik bezeichnen, hat in dieser schönen neuen Welt sexueller Abziehbilder keinen Platz mehr. Dass ein Mann dich anzieht, den du eigentlich nicht anziehend findest, wirst du auf Grindr niemals herausfinden. Auf Klappen aber entstanden gerade daraus oft spontane Begegnungen und überraschende sexuelle Erfahrungen.
Vielleicht begann der Abstieg der Klappe ausgerechnet mit dem Aufstieg der Schwulenbewegung, die das öffentliche Klo als sexuelles Ghetto missdeutete, als Rückzugsörtchen heimlichtuender Schwuler, das mit zunehmender Emanzipation immer weniger benötigt würde. Die heute so dominierende Vorstellung von der Klappe als Ort und Ergebnis der Unterdrückung schwuler Menschen hat sicher auch mit dem sogenannten Hamburger Spiegel-Skandal zu tun: 1980 zerschlug der Schwulenaktivist Corny Littmann die Spiegel von Hamburger Klappen und enttarnte damit Überwachungsräume der Polizei – und die systematische Erfassung von Schwulen durch den Staat. Martin ist sich sicher, dass wir das Ende der Klappen selbst mitverursacht haben: „Wenn die bürgerliche Gesellschaft den Klappen hätte den Garaus machen wollen, sie hätte viel früher die Gelegenheit dazu gehabt.“
Der Pariser Künstler und Ausstellungskurator will den schlechten Ruf nun grundlegend revidieren. Mit einem Buch, einer Ausstellung im Schwulen Museum*, einem Dokumentarfilm und verschiedenen Veranstaltungen will Marc Martin der Klappe nun endlich den ihr gebührenden Platz in der Geschichte des Schwulseins verschaffen. Für „Fenster zum Klo“ öffneten die Berliner Reinigungsbetriebe ein letztes Mal einige der lang schon verschlossenen Häuschen und erlaubten Martin dort zu filmen und zu fotografieren. Die für den Welttoilettentag am 19. November geplante Veranstaltung auf einer Kreuzberger Klappe musste er jedoch auf unbestimmte Zeit verschieben. Orkan Xavier hat die Anlage im Berliner Untergrund volllaufen lassen. Immerhin den einen Vorteil haben Grindr, Scruff und Co.: Von den Folgen des Klimawandels bleiben sie noch eine Weile verschont.
Dirk Ludigs
SIEGESSÄULE präsentiert
Marc Martin: Fenster zum Klo – Public toilets & private affairs, 17.11.2017–05.02.2018 (Vernissage: 16.11., 19:00; Afterparty ab 22:00 im Barbiche), Schwules Museum*
World Toilet Day
Panel: Cruising gestern und heute. Eine Begegnung zwischen den
Generationen, 19.11., 17:00, Schwules Museum*
Marc Martin: „Fenster zum Klo. Hommage an den Klappensex“, Agua
éditions, 300 Seiten, ab dem 10.11. erhältlich
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