Die Rückkehr des Politischen in die Gesellschaft
Was das gestrige Wahlergebnis für unsere Gesellschaft und im besonderen für LGBTI bedeutet, erklärt Dirk Ludigs in seinem neuen Bewegungsmelder
Der gestrige Abend war ein Desaster mit Ankündigung. Der Erfolg der AfD ist in erster Linie ein Versagen der demokratischen Parteien, allen voran der Großkoalitionäre. Im Sommer standen die Rechten noch bei sieben Prozent in den Umfragen, Trend nach unten. Doch dann kam ein TV-Duell, in dem die AfD – obwohl gar nicht am Tisch – das Thema diktierte. Seitdem ging es mit den Zahlen für die AfD nach oben. Warum? Weil es AfD-Wähler*innen nie um soziale Gerechtigkeit oder das Gefühl ging, abgehängt zu sein. Es passt ihnen schlicht die ganze offene Gesellschaft nicht. Es geht ihnen um kulturelle Hegemonie, den Hass auf Geflüchtete und auf liberale Werte.
Wer gestern AfD gewählt hat, erteilte eine klare Absage an internationale Strukturen, wollte einen neuen Nationalismus und eine Rückkehr zum traditionellen Familienbild. Wenn Alice Weidel im Wahlkampf davon salbaderte, dass die AfD die einzige Schutzmacht von Schwulen und Lesben sei, dann hieß das eben konkret nicht die Akzeptanz schwuler und lesbischer Lebenswelten, sondern appellierte ausschließlich an Rassismus und Fremdenfeindlichkeit innerhalb des LGBTI-Spektrums. Was Weidel meinte und leider zu viele vor allem schwule Männer und einige lesbische Frauen hörten: Seid froh, von Rechten diskriminiert zu werden und nicht vom Muselmann geschlachtet!
Die Sozialdemokratie hat gestern Abend sehr früh die einzig richtige Konsequenz gezogen: Oppositionsführerin zu werden und das nicht den Demokratiefeinden zu überlassen. Dabei hat sie mit ihrem Gerechtigkeitswahlkampf nicht einmal alles falsch gemacht. Sie muss, wenn sie irgendwann einmal wieder die RegierungschefIn stellen will, eine klare Alternative zu Merkelscher Politik formulieren. Nur: Nach vier Jahren GroKo, nach 15 Jahren Regierungsbeteiligung seit 1998 und nach Agenda 2010 ist die SPD mit diesen Themen einfach bei zu wenigen Menschen glaubwürdig. Jetzt hat sie im besten Fall vier Jahre Zeit, sich Seit’ an Seit’ mit den leicht gestärkten Linken als echte Opposition zu positionieren. Der Abschied von Schröders Agenda kann nicht über Nacht und nicht in der Regierung gelingen. Die Partei scheint das verstanden zu haben.
Über das höchste Stöckchen werden in den nächsten Wochen die Grünen springen müssen. Doch die Alternative zu Jamaika hieße Neuwahlen. Die wären ein Triumph für die AfD, der Beweis dafür, dass sich das demokratische System von rechts destabilisieren lässt. Und die überraschenden leichten Gewinne machen den Schritt in diese Dreier-Koalition für die Grünen um vieles einfacher.
Für LGBTI-Themen wäre eine Jamaika-Koalition unter den gegebenen Umständen das Schlechteste nicht. Die Unterschiede zwischen der FDP und den Grünen sind bei genauem Hinsehen tatsächlich kleiner als das verbale Keulen gegeneinander vermuten lässt. Zwei Bürgerrechtsparteien, die sich in der Regierung profilieren müssen, das wird die gesellschaftlichen Blockadekräfte innerhalb von CDU/CSU besser in die Schranken weisen, als jede Zweierkonstellation mit der Union das könnte. Dass die FDP nicht drittstärkste Kraft wurde, kann helfen, sie in diese wenig geliebte Koalition „hineinzuzähmen“.
Womit wir bei der Union wären. Angela Merkel ist die eigentliche Verliererin des gestrigen Abends, Regierungsauftrag hin oder her. Acht Prozentpunkte Verlust, so etwas nannte man früher einen Erdrutsch. Dass Merkel diesen Abend politisch überleben wird, hat sie paradoxerweise vor allem dem Aufstieg der AfD zu verdanken. Doch sie ist seit gestern Abend eine Kanzlerin auf Abruf. Ihr Politikstil des Auf-Sicht-Fahrens, des Sich-nicht-Festlegens wirkt in einer Gegenwart, die vom Aufstieg der Autoritären in der gesamten westlichen Welt geprägt ist, wie aus der Zeit gefallen. Wer gegen Autoritäre erfolgreich sein will, der braucht einen klaren Kompass und gesellschaftliche Visionen, siehe Macron oder Trudeau, beides lässt sich von Merkel nicht behaupten. Auch nicht in Sachen Europa: Wie sich die drei Parteien in den wichtigen europäischen Zukunftsfragen einig werden können, das gehört zu den spannenderen Fragen der kommenden Wochen.
Das wichtigste Ergebnis des gestrigen Abends aber ist ein anderes und weist über Wahlen hinaus: Es ist nach den Jahren biederer Verschlafenheit eine Rückkehr des Politischen in die Gesellschaft! Eine Bundestagswahl allein bringt keine Verhältnisse zum Tanzen. Die gesamte Zivilgesellschaft muss auf die Herausforderung des neuen Nationalismus Antworten finden. Für uns LGBTI heißt das: den Kampf gegen Homo- und Transphobie in die ganze Gesellschaft zu tragen und klarer zu begreifen, wie eng er mit Themen wie Rassismus, Sexismus und Xenophobie verknüpft ist. Die freie Gesellschaft verteidigen, heißt: sie stets neu erkämpfen, sie ausbauen, sie weiter entwickeln.
Der neue Bundestag ist kein schöner Anblick, aber er ist vielleicht der ehrlichste seit langem. Der Konflikt um die Zukunft unserer Gesellschaft liegt klar vor uns. Es geht um die Grundfragen der Menschlichkeit, in denen es keine Anbiederung und keine Kompromisse geben kann. In den USA hatte die Wahl Trumps eine starke neue progressive Bewegung zur Folge. Die Wahl der AfD in den Bundestag ist ein Auftrag, das auch in Deutschland zu schaffen.
Dirk Ludigs
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