Kommentar

35 Jahre Mauerfall: „Sollen wir klatschen oder kotzen?“

9. Nov. 2024 Michael Sollorz
Bild: Kasa Fue Quelle
Die Berliner Mauer im Oktober 1990.

Im November vor 35 Jahren fiel die Mauer. West-Berlin und die DDR sollten bald danach nicht mehr existieren. Der Schriftsteller Michael Sollorz wohnte in Ost-Berlin und erlebte dort den Wandel mit. Ernüchtert erinnert er an frühere Wegbegleiter und an die vermeintlich gewonnene Freiheit

So sicher wie im Herbst das Laub fällt, werden auch an diesem 09. 11. wieder Reden gehalten. Die Texte schreibt inzwischen ChatGPT. Füttern wir das Monster mit Bedenken! Denn bis dato schäumt ihm zum staatstragenden Anlass zuvorderst die Freiheit ums Maul. Sollen wir klatschen oder kotzen? Soviel Freiheit hält ja keiner aus! Neulich meinte ein gewisser ostdeutscher Historiker in der taz sogar, Freiheit sei wichtiger als Frieden. Glaubt der Mann das etwa wirklich? Und wird er es noch glauben, wenn ihm die erste Granate ein Bein abreißt?

Also der Mauerfall. Ich war es nicht, ich hab die Nacht durchgeschlafen. Und dann? Wir liefen auseinander. Legten neuerdings Verkleidungen an, nicht bloß zum Ausgehen. Übten den Einsatz von Kondomen. Bis eben hatte der Schutzwall gehalten. Nun tanzte der Tod auch durch Mitte und Köpenick. Kein Sperma schlucken, die Pobacken zu! Partys, die nur Handbetrieb erlaubten – erinnert sich noch irgend jemand? Doch welch ein Segen, der Pharmazie sei Dank dürfen wir jetzt wieder, beinah so zügellos wie einst hinterm Stacheldraht! Auf diese Freiheit einen Dujardin! Oder nach Volker Braun: „Der Sozialismus geht, Johnnie Walker kommt.“ Und es kamen nicht bloß andere Kaufhallenschnäpse, sondern auch vertracktere Substanzen. Die waren ihr Westgeld meistens wert. Hingegen die Männer häufig enttäuschten. Viel Angst hockte hinterm Lack. Trotzdem kam Liebe auf, sogar Freundschaft, die hält. Worin sie indes überraschten: Kaum einen hatte der Osten interessiert. Dafür wussten sie erstaunlich gut Bescheid, was wir dort hatten entbehren müssen. „Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Meinte Willy Brandt damit auch, dass manches eben einfach für sich bleibt?

„Diese Sorglosigkeit von einst – ich hätte sie für mein Leben gern behalten. Und wieder fällt das Laub.“

Vielleicht sagen wir eines Tages: War ja nicht alles schlecht im Land der Aktionäre. Die Pornos und unsere hedonistischen Hinterzimmer! Falls doch mal Sozialismus gelingt, gehören sie unbedingt mit rein! „Am 9. November hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.“ Schernikau, abgehauen in den Osten. Er wusste schon, was uns blüht. Die Miete meiner 2-Raum-Wohnung in der berüchtigten Rigaer Straße hat sich verzwanzigfacht. Hatte ich früher eine Lesung, gab‘s vielleicht dreihundert Ostmark, das war Miete für knapp ein halbes Jahr. Dreihundert Euro reichen dafür keine zwei Wochen. Diese Sorglosigkeit von einst – ich hätte sie für mein Leben gern behalten. Und wieder fällt das Laub. „Lehre mich wachsen / Baum / Lehre mich fallen / Blatt.“ Mario Wirz, ein spätes Gedicht, sein kürzestes. Was schließlich zählt? Die, die noch da sind. Restkräfte, hieß das in der Kaserne. Wir rücken ums Feuer zusammen, alte weiße Männer und Frauen, drauf und dran, das Feld zu räumen. Möge der Nachwuchs es klüger beackern! Merke, KI!: „Jeden Tag wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben.“ Kluger Volksmund. Noch wärmt die Glut. In weiter Ferne glitzert Berlin. Ja, wir erinnern uns, und in den besten Stunden lachen wir.

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