Interview

Selbstverteidigung für LGBTI*: „Angst ist ein schlechter Ratgeber“

16. Aug. 2017 fs
Bild: Foto: Gaysha e. V.

Der Verein Gaysha e.V. bietet Selbstverteidigungskurse für LGBTI* an. Welche Situationen Thema sind, welche Ansätze es gibt und wie sie uns stärken können, erklärte uns Trainer Andreas Dobrunz

Andreas, euer Verein wurde 1989 als schwules Anti-Gewalt-Projekt gegründet. Was hat der Besuch von Karatekursen mit Anti-Gewalt-Arbeit zu tun? Dazu muss man kurz in die Historie schauen. 1989 war ein Jahr in dem es zu vielen Überfällen kam. Einige unserer Gründungsmitglieder haben damals im Mann-o-Meter gearbeitet und dort die Idee eines Anti-Gewalt–Projektes entwickelt. Sie sind dann auf lesbische Freundinnen aus den Reihen des SVF (Selbstverteidigung für Frauen) zugegangen, die Kurse für Selbstverteidigung anleiten sollten. Unsere ersten Trainerinnen waren erfahrene Karateka und hieraus entwickelte sich die Begeisterung für das klassisches Karate. Man hat schnell erkannt, dass Karate eine sehr gute Kampfkunst ist, die Körper, Seele und Geist umfasst und hilfreich für die Selbstverteidigung ist.

Wie ist die Idee entstanden, Selbstverteidigungskurse explizit für LGBTI* zu machen? Karate an sich ist zunächst eine Kampfkunst mit der Betonung auf Kunst. Es lehrt zwar hervorragend die Prinzipien der Kampfkünste, die auch für die Selbstverteidigung hilfreich sind, aber es dauert sehr lange, ein hohes Niveau zu erreichen. Selbstverteidigung wiederum kann man kompakter, schneller und realistischer vermitteln. Wir haben in unserem Verein zwei Trainer, die eine Ausbildung im Deutschen Karate Verband zum Lehrer für Selbstverteidigung gemacht haben. Wir haben durch diese Ausbildung selber erst einmal erkannt und erfahren, was Selbstverteidigung alles beinhaltet und beschlossen, dieses Wissen kompakt in einem Kurs weiterzugeben. Dahinter steht die feste Überzeugung, dass Selbstverteidigung die Chance, eine Gefahrensituation unverletzt zu überstehen, signifikant erhöht.

„Einige haben Übergriffe erlebt, die ein Gefühl von Ohnmacht hinterlassen haben. Es werden Schuld- oder Schamgefühle geäußert, in einer Gefahrensituation versagt zu haben und Opfer gewesen zu sein.“

Welche Sorgen, Wünsche und Ängste bringen eure Teilnehmenden mit? Das wichtigste ist, in der Gruppe eine vertraute Atmosphäre und einen respektvollen Umgang herzustellen. Wer spricht schon von jetzt auf gleich gerne über Ängste und Sorgen in einer Gruppe? Einige haben Übergriffe erlebt, die ein Gefühl von Ohnmacht hinterlassen haben. Es werden Schuld- oder Schamgefühle geäußert, in einer Gefahrensituation versagt zu haben und Opfer gewesen zu sein. Manchmal gibt es die Sorge, dass man mit mehr Angst als vorher aus dem Kurs geht. Die Sorge, sich vor einer Gruppe zu blamieren, ist ein uns allen bekanntes Gefühl. Sorge kann auch der Gedanke bereiten, dass durch eine Gegenwehr eine Situation erst recht eskaliert. Es gibt oft konkrete Wünsche, wie zum Beispiel der Wunsch, in Gefahrensituationen ruhiger und gelassener zu bleiben und sicherer handeln zu können. Wünsche können auch unrealistisch sein. Niemand verlässt diesen Kurs als „Terminator“, auch wenn man sich das vielleicht noch so sehr wünscht. Viele haben auch eine gesunde, kritische Haltung am Anfang und die Sorge, dass Selbstverteidigung im Ernstfall nichts bringt. Als Trainer ist es unsere Aufgabe, alle Sorgen, Wünsche und Ängste ernst zu nehmen und einen geschützten Raum zu bieten, aber auch unsere eigenen Grenzen zu erkennen. Stark traumatisierte Menschen gehören nun einmal nicht in einen Selbstverteidigungskurs.

Hat sich das Interesse an euren Kursen im Lauf der Zeit verändert? Das Interesse ist sehr schwankend. Manchmal sind auch schon Kurse ausgefallen, weil zu es zu wenig Anmeldungen gab. Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. In den letzten Kursen merkt man an den Fragen und Anliegen, dass sich das Interesse mehr von Prävention auf konkrete Techniken verlagert hat, was sicherlich von einer sinkenden Gewalthemmschwelle herrührt.

„Klar muss sein: egal wie ich mich verhalte, ich verhalte mich richtig, solange ich nicht provozierend werde oder vorzeitig in einen Angriff übergehe. Der Täter verhält sich falsch!“

Wie verhalte ich mich „richtig“ in einer Situation, in der ich homo- oder transphob angegriffen werde? „Richtig“ ist hier zurecht in Anführungszeichen gesetzt. Klar muss sein: egal wie ich mich verhalte, ich verhalte mich richtig, solange ich nicht provozierend werde oder vorzeitig in einen Angriff übergehe. Der Täter verhält sich falsch! Es hängt immer von der einzelnen Situation ab, was richtig im Sinne von hilfreich oder falsch ist. Im besten Fall habe ich die Inhalte des Kurses soweit verinnerlicht, dass sie abrufbar sind. Im Vorfeld schauen, ob ich flüchten kann, ob Menschen in der Nähe sind, die ich um Hilfe bitten kann, versuchen, Distanz zu halten, bei einem körperlichen Angriff Techniken anwenden zu können, die meine Chance erhöhen, unverletzt zu bleiben.

Ein Thema eures Kurses sind „die Grenzen der Selbstverteidigung“. Was ist damit gemeint? Es geht darum, keine falschen Versprechungen zu machen. Es kann immer Situationen geben, in denen eine Attacke so unvermutet schnell passiert, dass wir nicht mehr handeln können. Angriffe gegen Messer und Schlagstöcke unterrichten wir erst in einem Fortgeschrittenenkurs. Dazu gehört aber auch die Diskussion, in wieweit eine Eigenbewaffnung sinnvoll ist. Der Einsatz von Pfefferspray, Elektroschocker, Messer oder gar Schreckschusspistole wird von uns nicht unterrichtet, weil wir das Risiko einer Eigenverletzung und einer unkontrollierbaren Eskalation als zu hoch einschätzen.

„Meine Reaktion sollte immer abhängig von der konkreten Situation sein“

Wie ist die rechtliche Situation in Bezug auf Selbstverteidigung? Der Notfallparagraph lässt sich vereinfacht so zusammenfassen: Selbstverteidigung ist straffrei, wenn die Selbstverteidigung zeitnah und angemessen erfolgt. Ich darf also nur in der gegenwärtigen Situation handeln und nicht später. Ferner muss die angewandte Notwehrhandlung in einer vernünftigen Relation zum Angriff stehen. Ganz platt gesagt: Wenn ich nur dumm angequatscht werde, wird eine körperliche Gegenwehr nicht mehr als Notwehr gesehen.

Wie kann ich mich auch gegen rein verbale Angriffe wehren, z.B. homo- oder transphobe Beleidigungen oder noch subtilere Formen von LGBTI*-Feindlichkeit, die mir im öffentlichen Raum begegnen, ohne mich in Gefahr zu bringen oder die Situation zu eskalieren? Meine Reaktion sollte immer abhängig von der konkreten Situation sein. Anhand des so genannten „Ampelmodells" kann ich sehr schnell erfassen, ob eine verbale Attacke oder eine subtile Form von Aggression noch im grünen Bereich liegt, etwa: hält der Angreifer seine Äußerungen noch für humorvoll – auch wenn es schlechter Humor ist. Hier kann man entspannt reagieren und mit Humor kontern, oder klar machen, dass sein Humor diskriminierend und verletzend ist. Gelb bedeutet, dass der Angriff eskalieren kann. Wie bei einer körperlichen Bedrohung sollte man hier Deeskalationstechniken anwenden. Im roten Bereich ist klar, dass der verbale Angriff nur die Einleitung zu einer körperlichen Attacke ist, und jegliche verbale Intervention sinnlos ist. Hier heißt es, die Flucht zu ergreifen, oder wenn nicht möglich, sich Raum zu schaffen und auf einen körperlichen Angriff vorzubereiten. Als grobe Faustregel gilt also: grün= reden, gelb=wenig reden (aber laut und klar) und rot=schweigen.

„Zivilcourage sollte man schon viel mehr im Vorfeld eines potenziellen Übergriffes zeigen“

Wie verhalte ich mich als dritte Person, die einen Vorfall beobachtet, am besten? Wie kann Zivilcourage gezeigt werden, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen? Zunächst gilt es bei aller Solidarität, sich und sein Leben zu schützen. Es hilft aber immer, aus der Distanz heraus laut zu werden (Hallo…ich sehe was sie da machen….stopp), Leute anzusprechen (ganz konkrete Ansprache und Anweisungen: hallo, Sie in der roten Jacke….kommen sie bitte und helfen sie mir….sie in der grünen Jacke: können sie bitte die Polizei verständigen…) und eine Gruppe zu bilden, die einem Täter/ einer Täterin deutlich macht, dass er/ sie allein gegen alle steht. Wenn man alleine ist, versuchen, größtmögliche Distanz zu halten, zum Beispiel die Notbremse zu ziehen oder die Polizei zu rufen. Ein guter Tipp ist auch, z.B. bei Nacht laut „Feuer“ zu brüllen. Leider hat sich „Hilfe“ so verbraucht, dass die meisten erst aufmerksam werden, wenn sie den Ausruf „Feuer“ hören. Zivilcourage sollte man schon viel mehr im Vorfeld zeigen. Man kann versuchen, ein potentielles Opfer aus der Gefahrensituation vorher raus zu holen (hallo Sie…kommen sie mal her….sie werden die ganze Zeit beobachtet….merken sie das…wir gehen jetzt mal ein Stück zusammen oder steigen hier aus…).

Laut Zahlen der Polizei oder von sozialen Projekten nimmt die Anzahl homo- und trans* feindlicher Übergriffe im öffentlichen Raum tendenziell zu. Ist von solcherlei größeren, gesellschaftlichen Entwicklungen in eurer Arbeit etwas zu spüren? Diese Zunahme an Gewalttaten ist uns auch bekannt. Wenn man jetzt böse wäre, könnte man denken, dass Angst die Menschen in Scharen in unseren Kurs treiben müsste. Tut sie aber nicht, und das ist gut so. Denn Angst ist ein schlechter Ratgeber. Selbstverteidigung ist nicht die Lösung des Problems, aber für einige kann sie ein Teil der Lösung sein. In meinem Karate Anfängerkurs und im Selbstverteidigungskurs merke ich aber schon, dass immer mehr Teilnehmende von Übergriffen und aggressiven Situationen berichten.

Andreas Dobrunz

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