Umgang mit einem Tabu: Sexueller Missbrauch an schwulen Männern
Warum fällt es schwulen Männern oft schwer, zu erkennen oder zu benennen, dass sie Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden sind? Jan Großer hat mit Betroffenen gesprochen
Es war als kurzer Nachmittagsbesuch bei seinem letzten Date geplant: Matthias* wollte nur kurz etwas abholen, Sex stand überhaupt nicht zur Debatte. „Ich setzte mich aufs Sofa, er bot mir ein Glas Saft an. Fünf Stunden später wachte ich mit einem Dildo im Hintern wieder auf.“ Er sei plötzlich zusammengebrochen, behauptete sein Gastgeber und stellte sich überrascht. Matthias packte seinen Kram zusammen und stürmte aus der Wohnung. „Ich war noch halb benommen und wollte nur weg“, erinnert er sich. Bis heute spürt er eine riesige Wut auf den Typen, vor allem weil er ihm so etwas niemals zugetraut hätte.
Hinzu kommt die Sorge, dass es Filmaufnahmen von seinem Blackout und dem stattgefundenen Sex geben könnte, die dann früher oder später im Internet auftauchen. In seiner Wut löschte er die Handynummer des Täters. „Mit meinem Freund beschloss ich dann, ihn anzuzeigen, aber ich kannte nun weder seine Nummer noch den Nachnamen, und die Wohnung war nicht seine gewesen. Also kam es nicht zur Anzeige.“
Vielen fällt es schwer, einen Missbrauch zu realisieren
In Beratungsgesprächen oder Selbsthilfegruppen werden solche oder ähnliche Fälle häufiger geschildert. Manchmal dauert es Jahre, bis ein Mann eine Situation als missbräuchlich erkennen und benennen kann, einige erleben solche Geschichten mitunter über Jahre hinweg immer wieder. Doch warum fällt es vielen schwulen Männern so schwer, Missbrauch oder gar eine Vergewaltigung zu realisieren?
Die Gründe mögen in einem bestimmten Verständnis von Männlichkeit und seiner Integration in das schwule Selbstbild liegen: potent und jederzeit bereit. Die schwule Welt hat dem Mainstream schon immer gerne den Mittelfinger gezeigt – das Überschreiten von sexuellen Tabus und Grenzen gehört dabei zum kulturellen Selbstverständnis der Szene und zum Identitätsentwurf vieler schwuler Männer. Eine Erscheinung, die durchaus als Reaktion auf eine homophobe Umwelt und eigene Scham gelesen werden kann. Extremer Sex und intensive gemeinsame Drogenerfahrung erzeugen aber auch ein besonders intensives Gefühl von Nähe und Gemeinschaft. Manchen Männern mag es dabei schwerfallen, eigene Grenzen zu wahren. Die Sehnsucht nach Nähe und sexueller Bestätigung als „geile Sau“ erscheinen wichtiger als alles andere. Das Bild der omnipotenten schwulen Männlichkeit mag Scham und Selbstzweifel abwehren, ist aber schwer mit der Opferrolle zu vereinbaren. Die Folge? Manche verdrängen oder verharmlosen die erlebte sexuelle Gewalt oder suchen die Schuld bei sich.
Welche Rolle spielen Drogen bei dem Thema?
Eine große Rolle im Zusammenhang von schwuler Sexualität und ihren Risiken spielen Drogen jeglicher Art. Sie senken Hemmungen, verändern das Bewusstsein und schaffen eine große Distanz zum Alltag. Sie können aber auch Gedächtnislücken hinterlassen. So äußern Betroffene oft Zweifel, ob ihre Erinnerung an den Missbrauch korrekt ist oder ob sie in der Situation nicht vielleicht doch ihr Einverständnis signalisiert haben. Manchmal wird ihnen erst durch Hinweise anderer oder körperliche Spuren bewusst, dass sie Opfer sexueller Gewalt geworden sind.
Aber warum wird sexuelle Gewalt unter schwulen Männern gerade jetzt zu einem Thema, das vermehrt an die Öffentlichkeit zu dringen scheint? Ein Grund ist mit Sicherheit das sich immer weiter auffächernde Angebot schwuler Dating-Apps wie GrindR und Scruff. Dates werden noch schneller ausgemacht als noch vor ein paar Jahren, man trifft sich eher zu Hause als in einem Club oder der Sauna. Während an Szeneorten die Anwesenheit anderer noch eine gewisse Sicherheit verspricht, ist man in einer privaten Wohnung allein mit seinem Date oder gleich mehreren Männern, die heutzutage in Berlin wahrscheinlich alle mehr oder weniger „druff“ sind. Entweder wurden die Drogen zu Hause konsumiert, oder die Leute kommen verballert aus irgendeinem Club und suchen dann online noch nach unkompliziertem Sex.
Der Drogenkonsum in der Szene hat sich in den letzten Jahren verändert
Der Drogenkonsum in der Szene hat sich in den letzten zehn Jahren deutlich verändert. Statt Pillen zu schlucken oder weiße Pulver zu schnupfen, werden zunehmend Stimulanzien wie Crystal Meth intravenös injiziert. „Slammen“ heißt das im Szene-Jargon. Eine Injektion unterscheidet sich in Art und Intensität des Erlebnisses erheblich von anderen Arten des Konsums. Der Kick wird als überwältigend beschrieben – „Ich war nur noch Loch“ – und ist oft mit erheblichem Kontrollverlust verbunden. Zusätzlich hat sich GHB/GBL, auch als G oder Liquid Ecstasy bekannt, rasant verbreitet. Die Substanz wirkt angstlösend und enthemmend. Allerdings ist bei keiner anderen Droge das Risiko einer Überdosierung so hoch. Und die führt mitunter zu Hilflosigkeit, Gedächtnislücken, Koma und Tod durch Atemstillstand. G kann unbemerkt Getränken beigemischt werden und ist daher auch als „K.o.-Tropfen“ berüchtigt.
Diese Verbindung aus schnell verfügbarem Sex und extremen Rauschzuständen führt häufig zu Situationen, die ebenso geil wie riskant sein können. Eine Sexparty, die mit ein paar befreundeten Fuckbuddys beginnt, kann sich zu einer mehrere Tage dauernden Veranstaltung mit wechselnden Teilnehmern entwickeln. Zu Beginn getroffene Vereinbarungen, ob zu Safer Sex oder anderen persönlichen Grenzen, können dabei im Verlauf und unter zunehmendem Drogeneinfluss ihre Geltung verlieren. Wo die Grenze zwischen Einvernehmlichkeit und Missbrauch verläuft, ist dann oft für keinen Teilnehmer mehr deutlich. Aus diesem Grund müssen Missbrauchssituationen nicht zwingend aus böser Absicht oder bewusst entstehen, sondern sind manchmal einfach einer falschen Einschätzung der Situation oder des Willens des Sexpartners geschuldet. Das macht sie für die Opfer natürlich nicht weniger dramatisch.
Sich nicht an Absprachen zu halten reicht aus, um eine missbräuchliche Situation entstehen zu lassen
Aber wo beginnt Missbrauch? Im anfangs geschilderten Beispiel ist die Situation noch eindeutig. Einem Mann wurde ohne sein Wissen eine Droge verabreicht, unter deren Einfluss er über mehrere Stunden vergewaltigt wurde. Sexueller Missbrauch fängt aber oft schon viel früher an – auch ohne offene Gewaltanwendung oder Betäubung des Opfers. Sich beispielsweise nicht an vorab getroffene Bedingungen und Absprachen zu halten reicht vollkommen aus, um eine missbräuchliche Situation entstehen zu lassen. Wie im Fall von Thomas*: „Ich war nach einem Clubabend noch ziemlich drauf und immer noch geil.“ Online fand er schnell einen Mann, der zu ihm nach Hause kam. Kaum durch die Tür, habe er Thomas gefickt. Erst langsam habe er bemerkt, dass der Typ überhaupt nicht wie auf seinen Profilfotos aussah. „Er sah aus wie ein Junkie. Ich bat ihn zu gehen. Aber er bestand auf seine ,Belohnung’ und fickte mich gleich noch mal. Das ging alles so schnell, ich fühlte mich überwältigt. Ich ließ es einfach geschehen, um ihn loszuwerden.“ Begegnet er ihm heute auf der Straße, fühlt er „eine Mischung aus Scham, Ekel und Wut." Nicht nur deshalb lebt Thomas zurzeit sex- und drogenabstinent, um nicht in alte Muster zurückzufallen.
Wie kann man sich besser vor Missbrauch schützen?
Doch wie lässt sich das Risiko verringern, Opfer von sexuellem Missbrauch zu werden? Einige Dating-Plattformen wie GayRomeo geben auf ihren Websites Hinweise auf sicheres Datingverhalten. Vorsicht ist geboten bei neuen Profilen und Usern, die niemandem persönlich bekannt sind. Man kann auch einen guten Freund vorab über ein Date oder eine Sexparty informieren. Wer Drogen konsumiert, sollte über Wirkung und Risiken gut informiert sein, denn die heute im Umlauf befindlichen Substanzen sind oft deutlich riskanter als noch vor zehn Jahren.
Offene Gruppen oder Beratungsangebote zum Umgang mit Chemsex bieten, neben anderen, die Berliner Aids-Hilfe und die Schwulenberatung an. Auch ein solides Selbstbewusstsein bietet Schutz vor Missbrauch, da es hilft, zwischen den eigenen Sehnsüchten nach Akzeptanz und Nähe und der Notwendigkeit, sich vor Schaden zu bewahren, die richtige Balance zu finden. Diverse schwule Beratungsstellen und Community-Organisationen bieten eine Vielzahl von Gruppen sowie Einzelberatung an, um Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein schwuler Männer zu stärken.
Sollte man doch zum Opfer geworden sein, ist die rechtliche Situation immer noch kompliziert. Eine Erläuterung des Sexualstrafrechts sprengt den Rahmen dieses Artikels; man kann es online nachlesen. Ereignisse wie die Kölner Silvesternacht 2015 mag einer von diversen Anlässen für eine Revision des Sexualstrafrechts in 2016 gewesen sein. Der Begriff der Zustimmung beziehungsweise Ablehnung – „Nein heißt nein“ – nimmt nun eine zentrale Rolle ein. Vorher hatte sich eine Person tätlich gegen eine Handlung zur Wehr setzen müssen, damit eine Tat als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung gelten konnte, was aber das Risiko noch größerer Gewaltanwendung barg. Ein Großteil der Kritik an der Neufassung ließe sich zusammenfassen mit: Gut gemeint, aber ohne Folgen. „Nein heißt nein“ ist zwar ein hehrer Grundsatz, aber seine Verletzung vor Gericht kaum nachzuweisen, da typischerweise Aussage gegen Aussage steht.
Eine gültige Zustimmung zu sexuellen Handlungen sei laut Professor Dr. Joachim Renzikowski, Experte für Sexualstrafrecht an der Universität Halle, prinzipiell auch unter Drogen- oder Alkoholeinfluss möglich, selbst in einem Zustand, der ansonsten eine rechtliche Geschäftsunfähigkeit bedinge. Dennoch sollte man sich keinesfalls davon abhalten lassen, Missbrauch oder Vergewaltigung zur Anzeige zu bringen. Opferhilfe und -beratung bietet beispielsweise das schwule Anti-Gewalt-Projekt Maneo an. Dazu gehören auch Unterstützung bei einer polizeilichen Anzeige oder Vermittlung in weitergehende psychologische Betreuung. Ebenso gibt es Angebote des Vereins Tauwetter, der Schwulenberatung und anderer Organisationen, die helfen können, das Erlebte zu verarbeiten.
Man sollte sich möglichst schnell an eine Vertrauensperson wenden
„Ich habe oft erlebt, dass Männer Gewalt- oder Missbrauchssituationen verdrängen und für sich behalten. Um trotzdem weiterhin den gewohnten Sex ohne Angst haben zu können, greifen sie dann oft zu Drogen beziehungsweise nehmen noch mehr Drogen“, erzählt Arnd Bächler, psychologischer Berater und Suchttherapeut bei der Schwulenberatung Berlin. Ist ein Mann Opfer von Missbrauch geworden oder vermutet es zumindest, sei das Wichtigste, dass er sich möglichst schnell an eine Vertrauensperson wendet, um das Erlebte zu besprechen und besser verarbeiten zu können.
Sexualität ohne Scham lustbetont leben zu können und nicht zweckbetont leben zu müssen stellt eine große Errungenschaft der schwulen Szene dar. Dazu gehören dann für viele durchaus auch Drogen. Diese Freiheit können wir uns aber nur erhalten mit der Bereitschaft, die Probleme und Konflikte, welche dabei entstehen, selbstbewusst als unsere zu erkennen und Wege zu finden, damit umzugehen. Das ist nicht vorrangig eine Frage von „Moral“, sondern von Selbstinteresse in einer Zeit, in der Schwulenhass wieder zunimmt.
*Namen wurden von der Redaktion geändert
Infos und Hilfe u. a. bei:
maneo.de
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