BEWEGUNGSMELDER

Ein Loblied der Beißhemmung!

16. Apr. 2017
© Tanja Schnitzler

Vor dem Hintergrund der aktuellen Debatte um das Buch „Beißreflexe“ ruft Dirk Ludigs auf, die Hetze in sozialen Netzen zu beenden und statt bissiger Anfeindungen eher nach Gemeinsamkeiten zu suchen

Mein bester amerikanischer Ehemann von allen und ich machen seit vielen Jahren diese Erfahrung: Amerikanische Gäste verabschieden sich, egal wie hitzig über welches Thema auch immer gerade diskutiert wurde, freundlich und höflich gegen 22.30 Uhr oder nach dem Servieren des Espressos. Deutsche Gäste komplimentieren wir gegen drei Uhr morgens aus dem Haus, wenn die Aschenbecher überfüllt sind, der Nagellackentferner ausgetrunken wurde und nachdem wir uns die Zähne im Badezimmer mit Zahnseide gereinigt haben, während unser deutscher Gast im Türrahmen angelehnt mit einem wirklich letzten Argument versucht hat uns von einer Theorie zu überzeugen, die offensichtlich für den Weltfrieden, die absolute Gerechtigkeit oder die Revolution, zumindest aber für sein Seelenheil und eine Mütze Schlaf an diesem Abend unabdingbar ist.

Oh ja, dieses Land kann sich um Subjekt und Prädikat diskutieren. Und keine kann es besser als die LGBTIQ*-Bewegung und am allerbesten die in Berlin, das kann ich aus 30 Jahren Erfahrung wirklich behaupten. Versteht mich nicht falsch, ich bin nicht gegen diskutieren, im Gegenteil! Vieles in der aktuellen Debatte um das Buch „Beißreflexe“ ist ganz bestimmt notwendig, dafür ist in den letzten Monaten, wenn nicht Jahren, zu viel passiert!

Mobbing, Hetze in sozialen Netzen, Androhungen körperlicher Gewalt – damit muss Schluss sein! Wir müssen über Verletzungen sprechen, einen Umgang mit ihnen finden. Wir müssen über Gewalt sprechen und über Freiheit von Gewalt. Wir müssen über Generationenkonflikte sprechen, denn auch sie sind Teil der Wirklichkeit.

Das alles ist wichtig, ohne Frage. Aber heute treibt mich noch etwas anderes um. Ich habe so eine Art „Antrag zur Geschäftsordnung“. Mir geht es um die Frage: Wird uns diese Diskussion gelingen? Wie kann sie gelingen? Was ist denn das Ziel der Debatte? Denn eines weiß ich sicher: Wenn das Ziel der Beteiligten sein sollte, Recht zu behalten oder andere zu überzeugen, wird sie scheitern! Zumal in einem aktuellen Klima, das von Verhärtungen, Verletzungen und Empfindlichkeiten geprägt ist.

Jede emanzipatorische Denkrichtung wird, wenn ich sie totalitär verstehen möchte und als Handlungsanleitung eins zu eins in die Praxis umzusetzen versuche, zu einem neuen Instrument der Unterdrückung. Die Geschichte linker Bewegungen ist voll von solchen Beispielen. Im Grunde kein neues Verhalten seit den Bolschwiki und den K-Gruppen, einigermaßen neu ist lediglich die dahinter stehende Ideologie. Aber es gibt eben auch einen anderen, etablierten Fundamentalismus, einen der vielleicht weniger augenfällig daherkommt, weil er mit bestehenden Machtstrukturen einhergeht. Nicht extremistische Positionen dagegen halten immer eine Gegenmeinung aus, daran können wir sie erkennen!

Ich selbst gucke seit zwanzig Jahren mal mit identitätspolitischer Brille und mal mit queerer Brille auf Probleme und entdecke dabei stets neue Aspekte. Ich bin queeren Ideen dankbar, übrigens auch einigen wegen der aktivistischen Praxis in Frage gestellten, denn sie haben mich, den weißen schwulen Mann, ermächtigt, empathischer zu werden, Trans*, Inter- und Rassismus-Fragen in mein Denken zu integrieren, ich glaube fast sogar sagen zu dürfen: ein bisschen ein besserer Mensch zu sein, falls das heute noch ein Wert ist, auf den wir uns einigen können. Andere schwule Männer meiner Generation, ich nenne da mal keine Namen, die Queeres vehement ablehnen, hinken in diesen Fragen, die doch nicht theoretisch sind, sondern unseren Alltag, unser tägliches Miteinander betreffen, oft furchtbar hinterher.

Gleichzeitig sind natürlich die Erfolge klassischer Identitätspolitik unübersehbar und haben viele Erfolge überhaupt erst möglich gemacht. Alle Sichtweisen haben ihren Platz und keine davon hat Anspruch auf letztgültige Wahrheit. Sie können hervorragend nebeneinander stehen und sich gegenseitig befruchten, wenn wir unsere Differenzen besser auszuhalten lernen. Ein praktisches Beispiel aus Berlin: Maneo macht Angebote, die für seine Zielgruppe passend sind, die Lesbenberatung und vor allem LesMigraS wiederum sind unverzichtbar mit ihrer auf Intersektionalität basierenden praktischen Arbeit. Bei allem ideologischen Streit beider Institutionen, der ausgetragen werden muss und soll, sprechen sie sich doch nicht gegenseitig ab, gute Arbeit mit von Gewalt Betroffenen zu machen. Dass es beides gibt, ist eine Bereicherung.

Worauf wir uns einigen könnten: Diese Debatte ist kein Religionskrieg. Wir streiten nicht um reine Lehren, sondern um kulturelle Theorien, verschiedene Arten, die Welt zu sehen. Wann immer wir kulturtheoretische Begriffe auf konkrete Personen oder Situationen anwenden, missbrauchen wir sie für eine Agenda. Empathie und Vertrauen, die Fähigkeit zuzuhören und auch Unterschiede stehen zu lassen, sind Voraussetzungen, damit eine Diskussion überhaupt zu etwas anderem führen kann als zerschlagenem Porzellan und zugeschlagenen Türen.

Es gibt viele Gründe, warum Deutschland seit 20 Jahren in LGBTIQ*-Fragen gesellschaftlich zurückfällt. Unsere Art, miteinander umzugehen, spielt eine nicht unwichtige Rolle dabei. Die Vielfalt in der eigenen Minderheit wertzuschätzen, auch um den Preis, dass die eigene Art zu denken nicht zur Grundlage für das Handeln aller wird und trotzdem themenbezogen gemeinsam direkt zu agieren, ist aber auch ein Teil internationaler LGBTIQ*-Geschichte. ACT UP zum Beispiel wird in diesen Tagen dreißig Jahre alt.

Wenn also diejenigen, die sich grundsätzlich auf ein paar Freiheitswerte einigen können, sich pragmatisch mit den Fragen und Problemen beschäftigten, mit denen uns die Gesamtgesellschaft konfrontiert, dann wäre viel geholfen und Unerhörtes erreicht. Eine Debatte nämlich, die zunächst einmal um die Fragen kreist: Was sind unsere Gemeinsamkeiten? An welche Punkte in unserer Geschichte können wir anknüpfen? Was ist als Nächstes zu tun? Und, nicht zu vergessen: Wer macht’s?

Es gibt so viel zu tun, man möchte verzweifeln. Die Bedrohung durch rechte Ideologien ist so real wie lange nicht. In Europa werden aktuell schwule Männer – oder wen sie dafür halten – wieder in KZs gesperrt. Deutschland hat menschenverachtende Trans*-Gesetze, unsere Teenager-Suizidraten sind immer noch achtmal so hoch wie der Durchschnitt, der alltägliche Rassismus - auch in der Szene – noch immer kaum ein Thema. Es gibt keine Rechtsgleichheit für gleichgeschlechtliche Paare, und, und, und. Ich bin mir sicher: In unseren gemeinsamen Kämpfen können wir noch viel mehr übereinander und voneinander lernen als in unseren Debatten!

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