Film

Irrungen, Wirrungen: „Die Mitte der Welt“

10. Nov. 2016
© Universum Film

Jakob M. Erwa hat Andreas Steinhöfels Coming-of-Age-Roman „Die Mitte der Welt“ verfilmt: als wegweisende schwule Lovestory, intensives Familiendrama und poppig-buntes Märchen vom Erwachsenwerden

Ein Roman, der von Massen ins Herz geschlossen wurde, muss natürlich auf die Leinwand. Aber je heißer diese Bücher geliebt werden, desto schwerer wird es, die hochgesteckten Erwartungen zu erfüllen. Bei Wolfgang Herrndorfs „Tschick“ hatte Fatih Akin vergleichsweise leichtes Spiel, die Geschichte für den Film zu adaptieren, ohne sich von der Vorlage zu weit weg zu entfernen. Andreas Steinhöfels „Mitte der Welt“ ist da nicht nur aufgrund des Seitenumfangs, sondern auch wegen der weitverzweigten Handlung, des vielfältigen Personals und unterschiedlicher Zeitebenen ein ganz anderes Kaliber. Seit das Buch 1988 erstmals erschien und sich zum Longseller entwickelte, haben sich immer wieder Filmemacher um den Stoff bemüht – und aufgegeben. Regisseur Jakob M. Erwa hat die Sache nun durchgezogen, hat Nebenfiguren und Handlungsstränge geopfert und mit einer eigenen Erzählweise dennoch versucht, dem Kern dieses Coming-of-Age-Romans gerecht zu werden.

Während Marco Kreuzpaintner seinerzeit mit „Sommersturm“ (2004) versuchte, eine schwule Coming-out-Geschichte auch für ein Mainstream-Publikum zu erzählen, geht Erwa in „Die Mitte der Welt“ einen entscheidenden Schritt weiter. Wieder geht es um einen ganz besonderen Sommer und wieder um eine erste große Liebe. Der 17-jährige Phil (Louis Hofmann) ist, wie er sich selbst aus dem Off vorstellt, „ein ganz normales Landei. Vielleicht ein bisschen schwuler als andere, aber sonst Normalausstattung.“ Dass Phil auf Jungs steht, wie er mit seinem neuen Mitschüler Nicholas (Jannik Schümann) zusammenkommt, wie sie sich verlieben und miteinander ins Bett gehen – all das wird von seinem Umfeld mit großer Selbstverständlichkeit aufgenommen.

Was sonst in Spielfilmen mit schwulen Jugendlichen unweigerlich miterzählt wird – Coming-out, Homophobie, die Angst vor Ausgrenzung –, hat in diesem utopischen Setting keine Relevanz mehr. Was aber nicht bedeutet, dass Phil keinerlei Probleme hätte: Seine Mutter Glass (etwas zu überdreht gespielt von Sabine Timoteo) zwingt ihm und seiner Zwillingsschwester Dianne (Ada Philine Stappenbeck) in der kunterbunten Familienvilla ihren penetrant unkonventionellen Lebensstil auf. Die beste Freundin Kat (Svenja Jung) begeht einen unverzeihlichen Verrat. Und auch die erste große Liebe – und sei sie noch so berauschend, erfüllend und beglückend – birgt Überraschungen, mit denen ein junger Mensch nicht unbedingt umzugehen weiß.

„Die Mitte der Welt“ ist kein perfekter Film. Auch in zwei intensiven Stunden wirkt einiges gedrängt und manchen Nebenfiguren wie dem lesbischen Freundinnenpaar (Nina Proll und Inka Friedrich) wünschte man etwas mehr Raum. Aber allein mit welchem Feuerwerk an bildnerischen und stilistischen Ideen Erwa versucht, die überschwängliche und auch widersprüchliche Gefühlswelt von Phil sichtbar und erlebbar zu machen, ringt großen Respekt ab. Und damit zieht er – zumindest alle, die sich noch gut genug an die eigenen ersten Gefühlswirrungen erinnern – unweigerlich in den Film.

Axel Schock

Die Mitte der Welt, D/A 2016, Regie: Jakob M. Erwa,
mit Louis Hofmann, Sabine Timoteo, Jannik Schümann, Ada Philine Stappenbeck, ab 10.11. im Kino

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