Und täglich grüßt das Schwuchteltier
Wenn sich nichts bewegt, wirkt sogar der dritte Aufguss noch frisch. Dabei ist die neue Mini-Welle an Schwulem in Deutschlands Werbung spießiger und rückständiger als ihre Vorreiterinnen
Erinnert sich ein Mensch noch an Holger und Max? Die beiden sind lange her, das Fernsehen sendete noch 4:3, die Lebenspartnerschaft galt als ungeheuer fortschrittlich und glutenfrei war was für Leute mit Zöliakie. Eine gefühlte Ewigkeit also. Holger und Max waren das, was heute unter „weiße Mittelstandsschwule“ firmiert. Sie standen auf Drama und Ballett und, was sie dann doch ein bisschen gruselig machte, auf Iglo-Fertigzeugs. Die beiden waren ein bisschen spießig, ein bisschen tuntig und sogar ein bisschen witzig, also alles in allem ein Glücksfall für die deutsche Werbung und kurz nach der Jahrtausendwende leidlich modern.
Man könnte also argumentieren, dass Schwule in der Werbung selbst in Deutschland irgendwie jetzt nicht mehr so ganz mehltaufrisch sind. Weit gefehlt! 2016 wird im Netz jedes bisschen Schwuchteligkeit in TV und Werbung gefeiert, seziert, bemeckert und selbst dann noch als bahnbrechend und tabulos hochgejazzt, wenn sie dröger, verklemmter und fragwürdiger ist, als das meiste, was schon vor Jahrzehnten möglich war. So ist das halt in einem Land, das sich selbst dazu verdonnert hat, wie in dem Spielfilm „Und täglich grüßt das Murmeltier“ seine Spießigkeit jeden Tag neu durchleben zu müssen, bis es endlich Empathie entwickelt, sich seinen Stock aus dem Arsch zieht, den es mutmaßlich mit einem Rückgrat verwechselt und nach vorne läuft.
Die BVG, zum Beispiel, die gerne so cool wäre wie die Kolleginnen von der Müllabfuhr, der das aber ums Verrecken nicht gelingt, stellte im Winter in einem Video einen Sing-Migranten in eine U-Bahn, die offenkundig ohne einen einzigen nicht-weißen Fahrgast mitten durch Berlin fährt. Vielleicht ist das Land ja noch nicht so weit. Für die schrille Vielfalt sorgten stattdessen unter anderem zwei Lederschwuchteln kaukasischer Abstammung, die so aussahen, als wären sie aus Al Pacinos „Cruising“ (1979) oder dem legendären „Knast" in der Fuggerstraße (1986) herausgefallen. Kann man machen, Murmeltier! Was man aber eigentlich nicht mehr machen kann: die beiden auf ein Plakat zu packen und daneben zu schreiben: „Bringt dich ans andere Ufer! Die Tageskarte.“
Das Andere Ufer war zwar ein schwules Tagescafé zu einer Zeit als David Bowie im ummauerten Westberlin „Heroes“ sang (1977) und Nasenringe noch halbwegs cool waren. Aber die Café-Betreiber nahmen die sprachliche und gesellschaftliche Ausgrenzung bewusst auf die Schippe. Was der Schwuchtel ziemt, ziemt aber der BVG noch lange nicht. Ich will ja nicht mal darüber schimpfen, dass der Spruch leidlich homophob ist, er ist vor allem spießig und öde. Man hätte so viel draus machen können: „Für romantische Ausflüge! Die Tageskarte.“ „Nicht nur für Veganer! Die Tageskarte.“ Aber nein, die Werbeagentur der BVG hatte offensichtlich eine Idee und nicht die Größe, sie wegzulassen.
Und so geht das mit allem, was das Netz gerade als „tabubrechend“ bejubelt oder zittrig fragt: „Geht das schon zu weit?“ Die Bahn nutzt das schwule Fußballer-Thema, um uns in einem immerhin recht professionell gemachten Spot zu zeigen, dass wir uns auf ihren Bahnsteigen lieber nicht küssen sollten. Wahrscheinlich ist Deutschland einfach noch nicht so weit. Carsten Flöter war ja auch erst 1987. (Unter 30-Jährige googeln Flöter jetzt bitte mal selber, danke.) Und REWE pappt Regenbogenfahnen an seine Eingänge, um uns im selben Moment mitzuteilen, eine Umdeutung habe stattgefunden: Die Regenbogenfahne steht jetzt nicht mehr für LGBTI*, sondern für ein bisschen Friede, Freude, Eierkuchen.
Ach und ein Kommissar darf unten liegen. Ein deutsches Fernsehgroßereignis, so bedeutend, dass es sogar um 20:15 Uhr direkt nach der Tagesschau im Fernsehen kommt. Mal ehrlich, Murmeltier: In der US-Serie Sense8 wird in 30 Minuten mehr schwul, lesbisch, trans* und gruppengevögelt als im Tatort in 30 Jahren. Das ist da ebenso Teil einer Normalität, wie LGBTI*-Menschen in der Werbung. So normal, dass in den USA jährlich die Besten gekürt werden, zum Beispiel: Die 14 besten LGBT-Spots 2014. Hier aber geht das Murmeltier lieber schlafen, denn morgen ist ja auch kein neuer Tag.
PS: In diesem Text wurde mehrfach das Wort „Schwuchtel“ verwendet und überproportional viel über Männer geschrieben. Letzteres, weil Lesben, wer hätte es gedacht, auch in der Werbung überproportional selten vorkommen. Ersteres hingegen ist ein Service des Autors, der es dem Netz ermöglichen soll, sich über etwas anderes aufzuregen als über das Thema der Kolumne.
Dirk Ludigs
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