BEWEGUNGSMELDER

Die Entschwulung der Welt

19. Apr. 2015

Die Kolumne von Dirk Ludigs

Es gab einmal eine Zeit, da schien die Welt zu verschwulen. Um die Jahrtausendwende muss es gewesen sein. Auf der Berliner Motzstraße kopulierten Lederkerle zur Mittagszeit, am Gärtnerplatz in München bekamen Frauen ohne Begleitung zweier Männer keinen Sitzplatz und auf Hamburgs Langer Reihe tauschten die portugiesischen Cafés ihre kargen Kellnerinnen gegen knackige Knaben aus Coimbra, um dem Konkurs zu entkommen.

Es war die Zeit, in der Harald Schmidt feststellte, Köln sei so schwul, man könne dort keinen Polizisten rufen, ohne dass ein Feuerwehrmann, ein Bauarbeiter, ein Cowboy und ein Indianer ihn begleiten. Ralf König wurde zum Frauenschwarm. In Berlin trank der Regierende Bürgermeister literweise Sperma aus Stöckelschuhen.

Kurz: Es war klar, den Schwulen gehört die Zukunft. Die wenigen Männer, die sich noch offen zu ihrer Hingabe ans weibliche Geschlecht bekannten, Fußballer meist, wie David Beckham, begannen sich zu schminken, pedikürten sich und nannten sich fortan metrosexuell, um nicht „hetero“ sagen zu müssen. Die letzten aufrechten Ungewaschenen zogen sich an bayerische Stammtische zurück, wo sie sich furchtsam grunzend fragten, wann „es“ wohl zur Pflicht würde. Derweil strahlten die schwulen Metropolen in Dauerregenbogenbeflaggung als sei jeden Tag Gay Pride.

Vorbei. Dahin. Die Welt entschwult seitdem, erst unmerklich, jetzt unübersehbar.

„Schwul, das klingt nach Jimmy Somerville hören und Wellenspiegel im Flur hängen haben“

Am Gärtnerplatz in München stillen 50-jährige Frauen in den Straßencafés ihre Drillinge. Schwule findet man dort nur noch tief im Herzen der „Deutschen Eiche“, wo sie überwintern wie die Prachtkäfer. Auf Kölns Kettengasse führen italienische Touristinnen ihre Dolce-und-Gabbana-Fetzen vor, als hätte es Elton John nie gegeben. Auf der Langen Reihe sind die portugiesischen Cafés längst durch Frozen-Yogurt-Franchises ersetzt, in denen aufgrund der astronomischen Mieten schon bald Siemens-Roboter die Kundschaft bedienen. Auf der Motzstraße sind die letzten Regenbogen nur noch dezente Aufkleber neben den barrierefreien Automatiktüren der Apotheken, die allenthalben eröffnen, wo schwule Lokale schließen. Und Berlins Regierender Bürgermeister sieht so aus, als würde er niemals irgendetwas trinken, nicht einmal Wasser.

Schwule Buchläden, schwule Verlage? Out of Business. Schwule Sportvereine? Schwule Chöre? Schwule Reiseveranstalter? Allenfalls noch Abteilungen ihrer LGBTTIQQSA-Mutterorganisationen. Schwul, das klingt nach Jimmy Somerville hören und Wellenspiegel im Flur hängen haben. Schwul, das ist entweder schrecklich uncool oder gleich furchtbar rechts. Ist nicht Geert Wilders schwul oder sieht wenigstens so aus? Schwule – sind das nicht diese alten Männer mit den versoffenen Gesichtern, die ihre Oben-Ohne-Fotos mit den sonnengegerbten Bitch-Tits und den eingefallenen Abs auf Facebook posten? Wenn Jens Spahn schwul ist, will ich das dann auch sein? Das sind doch die Fragen, die sich viele unsichere Teenager in Deutschland heute stellen.

Und ihre Antwort lautet nein. Schwul, das ist die Jugendkultur einer Jugend, die es nicht mehr gibt. Ein Begriff aus dem Neolithikum des LGBT. Eine mittelalterliche Männerwelt, in der Frauen nur als beste Gabis vorkommen, als feindliche Kampflesbenverbände oder als Mutti. Schwul ist das neue Homophil. Man kann heutzutage wirklich niemandem unter 50 ernsthaft eine schwule Karriere empfehlen. Schwul gehört ins Schwule Museum.

Bis auf weiteres auf jeden Fall. In zehn Jahren ist Schwul sicherlich schon wieder Retro. Werfen Sie also Ihren letzten Disco-Fächer nicht allzu voreilig in den Müll!

Dirk Ludigs

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