Queeres Wohnprojekt in Gefahr

Tuntenhaus wehrt sich gegen Verdrängung

2. Apr. 2024 Birgit Leiss
Bild: Tanja Schnitzler
Stefanie Gras (li.) und Stéphane Flesch

Das Tuntenhaus in der Kastanienallee ist eine Institution. Eine Insel der queeren Subkultur im ansonsten weitgehend glattgebügelten Prenzlauer Berg. Doch nun wurde das Haus verkauft und das Wohnprojekt ist akut bedroht

„Wir sind das meistfotografierte Wohnhaus in ganz Berlin“, sagt Stefanie Gras leicht amüsiert. Kein Wunder, der heruntergekommene Altbau mit seiner bunt bemalten Fassade und den Leuchtbuchstaben „Kapitalismus normiert – zerstört – tötet“ fällt auf zwischen all den schick sanierten Häusern mit cremefarbenem Anstrich. Vor dem Eingang stehen allerlei Recycling-Kunstobjekte und auch auf dem Hof sieht’s charmant-chaotisch aus. Im Treppenhaus künden teils verblichene Plakate von Demos und Aktionen der letzten drei Jahrzehnte. Denn das Tuntenhaus existiert tatsächlich seit nunmehr 34 Jahren. Nach der brutalen Räumung der Mainzer Straße mitsamt dem zweiten Berliner Tuntenhaus Forellenhof im November 1990 besetzten einige der Bewohner*innen damals das leer stehende Haus in der Kastanienallee 86. Schon kurz danach wurde das Wohnverhältnis legalisiert.

Plutonia Plüschowa ist 1997 eingezogen und lebt mit Stefanie in einer Fünfer-WG im Vorderhaus. Das eigentliche Tuntenhaus befindet sich zwar im Hinterhaus, aber die Übergänge sind fließend. Stefanie erklärt, dass sich die Hausgemeinschaft über die Küchenzugehörigkeit definiert. Manche wohnen im Erdgeschoss und nutzen die Küche im dritten Stock. Es sei wie eine gewählte Familie, beschreibt Plutonia das Zusammenleben: „Ein Ort, wo ich mich wohl- und sicher fühle, ein Ort, wo ich mich ausprobieren, weiterentwickeln und empowern konnte, als ich aus der Provinz hierherkam.“

Rettung durch Vorkaufsrecht?

Wie bei jedem Wohnprojekt gibt es Plenen – oder Meetings, wie sie hier auch genannt werden: WG-Plenum, Tuntenhaus-Plenum, Haus-Plenum. Zurzeit gibt es viele Meetings, denn im Februar haben die Bewohner*innen erfahren, dass ihr Haus verkauft wurde. Seit 2004 gehörte es einer GbR. Wer es nun gekauft hat und zu welchem Preis, ist unbekannt. Nur eins ist klar: Luxussanierung und nachfolgend teure Mieten würden für das Wohnprojekt das Aus bedeuten. „Es wäre ein weiteres Haus, das dem Kapitalmarkt zum Opfer fällt“, sagt Stefanie. Nach dem ersten Schock wird nun gewirbelt: Transparente malen, Demo organisieren, Kontakte zu Politiker*innen und Genossenschaften knüpfen. Die große Hoffnung ruht auf dem bezirklichen Vorkaufsrecht. Dieses Instrument, mit dem der Bezirk Käufer*innen ein Haus vor der Nase wegschnappen kann, ist zwar nach einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahre 2021 faktisch tot.

„Es wäre ein weiteres Haus, das dem Kapitalmarkt zum Opfer fällt.“

Doch es gibt ein Schlupfloch: Bei Häusern mit starken baulichen Missständen kann es auch weiterhin ausgeübt werden. Der Bezirk Neukölln hat es im November 2023 für die Weichselstraße 52 vorgemacht. Erhebliche Mängel hat die Kastanienallee 86 zweifellos: Die meisten Wohnungen haben keine Bäder, die Elektrik müsste dringend erneuert werden und auch das Treppenhaus braucht eine Instandsetzung. Mit dem „Substandard“ – Ofenheizung, WC auf halber Treppe – haben die meisten kein Problem. Dafür sind die Mieten sehr günstig.

„Wenn die Öfen raus müssen, könnte ich das akzeptieren, auch wenn es nicht meinen persönlichen Wünschen entspricht“, sagt Plutonia: „Hauptsache niemand muss raus, weil die Mieten ins Unermessliche steigen.“ Es gehe darum, dass die Hausgemeinschaft bestehen bleibt. „Nicht nur die Bausubstanz erhalten, auch die Menschen!“, fordert Stefanie und wird wütend, wenn sie von Menschen in Prenzlauer Berg und anderswo erzählt, die ihre Miete nicht mehr zahlen können oder wegen Eigenbedarfs aus der Wohnung fliegen. „Wir wollen, dass es für alle günstigen Wohnraum gibt“, erklärt Stefanie.

„Wir wollen, dass es für alle günstigen Wohnraum gibt.“

„Die Verdrängung der Hausgemeinschaft wäre ein immenser Verlust“, meint Stéphane Flesch – und das nicht nur für die 36 Bewohner*innen selbst. Das Haus trägt auch in einem der teuersten Kieze Berlins zur sozialen und kulturellen Vielfalt bei. So gibt es im Hof eine Verteilstelle für kostenlose, gerettete Lebensmittel und einmal im Monat lädt die „Küche für alle“ ein. Legendär sind auch die Hoffeste. Monatelang fiebern die Tunten ihrem Bühnenauftritt entgegen und feiern dann mit der ganzen Nachbarschaft. Stéphane hat acht Jahre lang im Tuntenhaus gewohnt.

Auch wenn er vor einigen Jahren ausgezogen ist, fühlt er sich immer noch mit dem Haus verbunden. Zusammen mit der Hausgemeinschaft kämpft Stéphane nun dafür, dass dieser rar gewordene „Freiraum für Kreativität, Miteinander und queeres Leben“ erhalten bleibt. „Tuntentum ist politisch“, findet Stefanie und erzählt, dass sie des Öfteren beschimpft und angepöbelt werden, wenn sie im Fummel auf die Straße gehen. „Ich leiste da auch Aufklärungsarbeit.“

Bild: Tanja Schnitzler
Die berühmte Tuntenhaus-Fassade in der Kastanienallee

Der Bezirk ist bemüht, das Haus zu retten. Allerdings drängt die Zeit: Denn Mitte Mai läuft die Frist für das Vorkaufsrecht aus! „Es wäre sicherlich wünschenswert, dieses Leuchtturmprojekt, das in besonderem Maße für Berlin als einer Stadt der Vielfalt steht, erhalten zu können“, schreibt Pankows Stadtrat für Stadtentwicklung, Cornelius Bechtler (Bündnis 90/Die Grünen), der SIEGESSÄULE auf Nachfrage. Anfang März fand ein Treffen mit den Bewohner*innen statt. Die größte Hürde sieht Bechtler im Finden eines Drittkäufers, der in der Lage ist, den Kaufpreis aufzubringen und die erheblichen baulichen Missstände unter Berücksichtigung der Interessen der Mieter*innen zu beseitigen. Denn bei dem Modell Vorkaufsrecht kauft der Bezirk das Haus nicht selbst, sondern sucht eine städtische Wohnungsbaugesellschaft, eine Genossenschaft oder eine andere gemeinnützige Käuferin.

„Eine Genossenschaft, wo wir als Hausgemeinschaft einen Generalmietvertrag mit Selbstverwaltung abschließen, wäre uns am liebsten“, so Plutonia. Doch das Geld für den Ankauf muss vom Senat kommen und der muss sparen. „Herr Wegner, zeigen Sie, dass Sie queere Kiezkultur erhalten wollen“, fordert Stefanie den Regierenden Bürgermeister auf. Um möglichst viel Druck machen zu können, brauchen sie nun dringend Unterstützung. Noch besser wäre natürlich, wenn das Haus in den Besitz der Bewohner*innen übergeht. „Vielleicht findet sich ja eine Gönnerin, die einen Kauf durch die Hausgemeinschaft unterstützt“, hofft Stefanie.

Tuntenhaus
Kastanienallee 86
10435 Berlin

Petition auf change.org

Demos zur Rettung des Wohnprojekts:
- 08.04. ab 08:30, Niederkirchnerstr. 5, 10117 Berlin
- 14.04. ab 13:00, Kastanienallee 86, 10435 Berlin

Weitere Termine:

Homepage: kastanie86.net
Instagram: @tuntenhausbleibt
Telegram: Tuntenhausbleibt
Facebook: K86-Tuntenhaus

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