Queere Angebote für polyamore Personen

Monogamie war gestern: Polyamouröser Aufbruch in Berlin

13. Nov. 2023 Anja Kümmel
Bild: Sergio Andretti
Susa ist Mitbegründerin einer Initiative für polyamores Wohnen

Polyamorie ist kein Nischenthema mehr: Die Gesellschaft öffnet sich für Beziehungsmodelle jenseits der Monogamie. So gibt es in Berlin etliche Anlaufstellen für „Polys“ – die sind aber nicht immer queer-inklusiv. LGBTIQ* haben spezifische Bedürfnisse und wünschen sich oft Safe Spaces. Wir haben uns queere Projekte für polyamore Menschen in Berlin angeschaut

„Wir sind so glücklich, dass wir euch endlich gefunden haben. Schon seit Jahren suchen wir so ein Angebot!“ Immer wieder bekommen Jule und BonBon, die an jedem vierten Montag im Monat das Queere PolyMeetup Berlin in der B-Lage organisieren, solche enthusiastischen Rückmeldungen. Ein klares Signal für den Erfolg des Projekts – aber auch ein Zeichen dafür, wie rar die Austauschmöglichkeiten sind für queere Menschen, die polyamor leben bzw. sich für polyamore Lebensweisen interessieren.

Polyamorie bedeutet, in mehreren Liebesbeziehungen gleichzeitig zu leben, sich dies zu wünschen bzw. offen dafür zu sein. Wie genau dies ausgestaltet wird, kann sehr unterschiedlich aussehen: Manche Polys haben eine Primärbeziehung und weitere Partner*innen, andere lehnen Hierarchien zwischen den verschiedenen Beziehungen ab – zentral ist in jedem Fall, dass alle Beteiligten über die Situation Bescheid wissen und ihr zustimmen.

In Berlin haben sich über die Jahre hinweg verschiedene Plattformen und regelmäßige Treffen etabliert, die sich an die Poly-Community richten: So finden etwa im Lovelite in Friedrichshain jeden Montag Poly-Treffen mit verschiedenen Ausrichtungen statt. Hier haben sich auch Jule und BonBon kennengelernt.

„Zu den Poly-Treffen sind immer auch queere Menschen gekommen“, erzählt BonBon. „Und es war schnell klar: Die Queers erkennen einander und finden sich oft in kleineren Gruppen zusammen.“

„Bei vielen cis hetero Polys wird zwar an einer Säule des Beziehungskonstrukts gewackelt, nicht aber am gesamten heteronormativen Gebilde"

Viele Fragen, die für cis hetero Polys gerade am Anfang zentral sind (Wie sieht mich die Gesellschaft? Kann ich mich bei meiner Familie outen?), finden queere Menschen weniger relevant, da sie oft schon mehrere Coming-outs hinter sich haben. Dafür bringen sie andere Diskriminierungserfahrungen mit, die einen speziellen Umgang erfordern. Gerade im Kontext sensibler Themen wie Liebe, Beziehungen, Sexualität und Eifersucht ist deshalb ein Raum hilfreich, in dem unterschiedliche Sexualitäten und Geschlechtsausdrücke nicht erst erklärt werden müssen. „Bei vielen cis hetero Polys wird zwar an einer Säule des Beziehungskonstrukts gewackelt, nicht aber am gesamten heteronormativen Gebilde“, berichtet BonBon. „Queere Menschen möchten aber nicht ständig Aufklärungsarbeit leisten, während sie eigentlich eigene Themen mitgebracht haben, die sie besprechen wollen.“

So entstand die Idee eines queeren Safer Space, für den ein speziell zugeschnittener Verhaltenskodex geschaffen werden sollte. Neben „Basics“ wie diskriminierungsfreier, geschlechtergerechter Sprache und Konsens gehört auch der sensible Umgang mit Darstellungen von Sexualität und Kink dazu sowie der Hinweis, dass es sich nicht um ein Dating-Event handelt. Was natürlich nicht ausschließt, dass sich hier Menschen kennenlernen. Aber: „Das Meetup soll ein Ort für zwischenmenschliche Begegnungen sein, keine Bagger-Veranstaltung“, fasst Jule zusammen.

Nach einigen ersten Treffen im Lovelite und einer kurzen Pause hat das Queere PolyMeetup Berlin seit Februar 2023 eine neue Heimat in der Neuköllner Kiez-Kneipe B-Lage gefunden, die den Ansprüchen an einen queeren Safe Space gerecht wird: „In der B-Lage sind wir jetzt super glücklich, weil wir auch Unterstützung von Seiten der Kneipe haben und der Ort außerdem nochmal ein anderes Publikum anzieht“, freut sich Jule.

Polyamores Wohnprojekt geplant

Ein weiteres Projekt, das sich aus dem Umfeld der Poly-Montage im Lovelite entwickelt hat, ist die Gründung eines polyamoren und queeren Mehrgenerationen-Wohnprojekts, das Susa und Rainer ins Leben gerufen haben. Momentan finden mit einem festen Kern von ca. fünf bis zehn Leuten regelmäßige Austauschtreffen statt, um Wünsche und Bedürfnisse zu konkretisieren. Kontakt zu verschiedenen Wohnungsbaugesellschaften besteht bereits. Ziel ist die Schaffung eines neuen Wohnraums, der polyamoren Beziehungsstrukturen gerecht wird, für Mehreltern- und Regenbogenfamilien sowie für Menschen mit Behinderung oder psychischen Beeinträchtigungen geeignet ist und eine menschenwürdige Pflege in allen Lebensphasen ermöglicht.

Da sämtliche Veränderungen im Beziehungsgeflecht die gesamte Gruppe beeinflussen können, ist eine engmaschige Kommunikation notwendig: „Die Leute im Projekt müssen eine innere Offenheit mitbringen, Dinge auszusprechen, die normalerweise in der Zweierbeziehung verbleiben, und sich mit diesen Fragen allen zu öffnen“, erklärt Susa. „Wir wollen mit diesem Projekt auch Schutzräume dafür bieten, um diesen Austausch zu ermöglichen.“

Diese Art der Kommunikation stellt oftmals eine große Herausforderung dar, und einige stoßen dabei an ihre Grenzen. Viele Fragen müssen erst einmal ausgehandelt werden: Wie viel Privatheit und Rückzug wird gewünscht, wie viele geteilte Räume soll es geben? Wie können Lösungen aussehen, um mit Veränderungen im Beziehungsnetzwerk umzugehen? Dies führt auch zu übergreifenden Fragen, die bestimmte heteronormative Konstrukte in Frage stellen: Was bedeutet Verwandtschaft? Was ist überhaupt eine Beziehung? Und: Wie lässt sich Commitment über die Kleinfamilie oder biologische Familie hinausdenken?

Von Anfang an war es Susa wichtig, im Alltag des Zusammenwohnens nicht nur die Grenzen aufzubrechen, die gewachsene Primärbeziehungen oftmals mit sich bringen, sondern auch die Hierarchien, die gesellschaftlich immer noch zwischen Hetero- und queeren Beziehungen existieren. Bereits mehrfach hat Susa, die sich als bisexuell identifiziert, die Erfahrung gemacht, dass Beziehungen zwischen Frauen bzw. als weiblich gelesenen Personen weniger ernst genommen werden als gegengeschlechtliche Beziehungen – auch in Poly-Kreisen. Deshalb greift Susa dieses Thema immer wieder auf und will dafür sensibilisieren, „dass Beziehungen unabhängig vom Geschlecht geführt werden können und es darin keine Wertigkeit geben darf.“ Ein Wohnumfeld, das nicht hierarchisch organisiert ist und fluide Wechsel ermöglicht, kann ein Schritt in die richtige Richtung sein. So zumindest wünschen es sich Susa und Rainer in der gelebten Praxis.

Coaching und Workshops für queere Polys

Aber was tun, wenn es mal nicht rund läuft in der offenen Beziehung, im Polykül (so wird das Beziehungsnetz in der Szene genannt) oder der Poly-WG? Coaching-Angebote, die sowohl in queeren als auch in Poly-Themen geschult sind, gibt es leider viel zu wenig. Yaniv Barinberg, Autor*in des Poly-Ratgebers „Mehr ist mehr“, bietet Online-Beratungen an; außerdem ist im November ein Online-Workshop für Einsteiger*innen in das Thema „Queer & Poly“ geplant.

An lesbische/queere Frauen in prekären Lebenslagen richtet sich das Beratungsangebot auf Spendenbasis des Berliner Vereins „RuT – Rad und Tat“. Deren Beziehungskonzept ist erfreulich weit gefasst, ob Zweier- oder Poly-Konstellationen, Freund*innen, Nachbar*innen, Geschäftspartner*innen oder Ex-Geliebte – hier finden alle ein offenes Ohr. Ansonsten kann es sich auch lohnen, die Webseiten von Beziehungsberater*innen gezielt nach den gewünschten Schlagworten zu durchsuchen. Verweise auf „queer“ und „poly“ finden sich dann doch ab und an im Kleingedruckten – vielleicht auch ein Zeichen dafür, dass immer mehr Menschen ihre traditionellen Rollenbilder und Beziehungsvorstellungen hinterfragen.

Queeres PolyMeetup Berlin,
jeden vierten Montag im Monat, 19:00, B-Lage,
mehr Infos: b-lage.de


„Mehr ist Mehr – Meine Erfahrungen mit Polyamorie“,
Yaniv Barinberg, edition assemblage, 144 Seiten, 14 Euro

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