Wegweiser
– 70 Fälle von Aids waren Ende 1985 in Berlin (West) registriert, viele Hundert, fast ausschließlich schwule Männer, waren HIV-positiv getestet. Niemand wusste, wie sich die Epidemie entwickeln würde. Angst und Hysterie in der Bevölkerung wuchsen, auch innerhalb der schwulen Szene. Umso wichtiger waren fundierte Informationen. Im Dezember 1985, genau vor 30 Jahren, fasste daher die SIEGESSÄULE den Stand der Forschung, aber auch die durch die neue Krankheit ausgelösten Diskussionen in einem Aids-Sonderheft zusammen. Im Gespräch mit Axel Schock blicken fünf der damaligen Mitarbeiter auf die erste Phase der Aids-Krise zurück
Dass das Aids-Sonderheft damals kostenlos verteilt werden konnte – die SIEGESSÄULE war damals ja noch ein Kaufmagazin –, hatte der Berliner CDU-Gesundheitssenator Ulf Fink durch einen großzügigen Zuschuss ermöglicht. In anderen Städten und Bundesländern wäre das undenkbar gewesen. Peter Hedenström: Ulf Fink war gewissermaßen das Berliner Pendant zur Gesundheitsministerin Rita Süssmuth und deren progressiver Aids-Politik. Man darf nicht vergessen, dass es zeitgleich beispielsweise auch Forderungen gab, HIV-Positive zu tätowieren oder zu kasernieren. Matthias Frings: Fink war in jeder Hinsicht ein Glücksfall. Er blieb stets sachlich, hat weder moralisiert noch dramatisiert und wusste sehr genau, dass Aufklärung der einzig richtige Weg ist.
Die Idee zu dieser Aids-Sonderausgabe war damals unter anderem von Rosa von Praunheim an den Senator herangetragen worden und der hat wohl mit seiner Unterstützung nicht lange gezögert. Elmar Kraushaar: Der Senat hatte erkannt, dass wir als schwules Stadtmagazin einen Zugang zur Szene hatten. Matthias: Und andere Medien, wo Schwule seriöse Informationen hätten bekommen können, gab es kaum. Wie sehr uns alle das Thema beschäftigt hat, sah man bei den Veranstaltungen, die wir organisierten. Eine der ersten fand in der TU statt und das Audimax war brechend voll.
Die SIEGESSÄULE hatte in den regulären Heften bereits sehr früh kontinuierlich über Aids berichtet. Elmar: Wir waren zu diesem Zeitpunkt wie keine andere gesellschaftliche Gruppe betroffen, und zwar im wahrsten Sinne des Wortes. Wir mussten uns daher zwangsläufig mit diesem Thema beschäftigen. Die Mainstream-Medien haben über Aids zu dieser Zeit kaum und wenn, wenig sachlich berichtet. Die SIEGESSÄULE lieferte insofern eine wichtige Gegenöffentlichkeit zu der ansonsten sehr reißerischen Berichterstattung. Peter: Einige Medien schrieben regelrecht die Panik in der Bevölkerung herbei. Hans Halter vom Spiegel hatte sich dabei ganz besonders hervorgetan. Wir hatten ihm daher im Prinz Eisenherz Buchladen Hausverbot erteilt.
Hans Halter war beim Spiegel für das Medizin-Ressort zuständig und hat immer wieder große Titelgeschichten zu Aids veröffentlicht. Matthias: Halters Rezept war recht einfach, aber absolut unseriös: Er nahm alle Informationen über schwulen Sex, die er in dunklen Kellerlöchern finden konnte. Das traf den Nerv der Zeit und befriedigte die Sensationsgeilheit der Leser. Darunter mischte er Statistiken, von denen keiner wusste, woher die Zahlen eigentlich stammten. Demnach hätten in den 90er-Jahren bereits Millionen Menschen allein in Deutschland HIV-infiziert sein müssen. Peter: Wir haben damals Hans Halter dennoch für das Aids-Sonderheft interviewt. Uns war wichtig auch Kontroversen abzubilden. Wie zum Beispiel zur Frage, ob man zum HIV-Test gehen sollte oder besser nicht.
Der Test zum Nachweis einer HIV-Infektion war damals noch ganz neu. Elmar: Die allerersten Tests wurden am Robert Koch-Institut von unserem Freund Uli gemacht, der dazu eine Studie durchführte. Wir waren damals in einer Gruppe dort und haben uns der Reihe nach das Blut abnehmen lassen. Uns war gar nicht klar, welche Dimensionen dieser Befund eigentlich hatte. Stefan M. Weber: Ich bin auch ganz blauäugig da hin und habe im Traum nicht daran gedacht, dass ich positiv sein könnte. Elmar: Zwei Jahre später hätte das keiner von uns mehr freiwillig gemacht. Stefan: Denn was sollte so ein Testergebnis bringen? Man konnte den Positiven ja noch nicht helfen, man hat sie mit dem Ergebnis also mehr oder weniger alleingelassen.
Hatte sich das Leben und Treiben in der Szene durch die wachsende Gefahr verändert? Elmar: Wir hatten damals zur Recherche eine Tour durch die Gemeinde gemacht und auch die richtig schlimmen Kaschemmen nicht ausgelassen. Unserem Eindruck nach war alles wie immer: Die Läden waren voll und es wurde gevögelt. Kondome spielten da meiner Erinnerung nach noch gar keine Rolle. Erst später wurde es üblich, dass die am Eingang in großen Gläsern herumstanden. Matthias: Einige Lokale haben tatsächlich ihre Darkrooms geschlossen, darüber wurde sehr heftig gestritten. Insbesondere die Aids-Hilfe-Mitarbeiter hielten dies für falsch, weil man dadurch den Zugang zu diesen Leuten verlor.
Nicht nur über die Schließung von Darkrooms wurde heftig gestritten, sondern auch über Safer Sex. Für manchen Nachgeborenen dürfte das schwer zu verstehen sein. Matthias: Dazu muss man sich die Situation in Erinnerung rufen. Die Safer-Sex-Botschaften der Aids-Hilfe erlaubten damals lediglich Ficken mit Kondom und gegenseitige Masturbation – auf Abstand! Das heißt: kein Küssen und kein Blasen. Wir wussten, dass wir mit dieser Krankheit ins neue Jahrtausend gehen würden, und jeder musste sich deshalb die Frage stellen: Würde ich das die nächsten 20 oder 30 Jahre aushalten? Elmar: Man darf außerdem nicht vergessen: Wir waren die erste schwule Fickgeneration. Wir hatten völlig neue Orte zur Verfügung – Darkrooms, Saunen, Pornokinos – und Berlin war ein wahres Sexparadies. Diese Freiheit wollten sich viele nicht so einfach wieder nehmen lassen. Karl-Heinz Albers: Keiner von uns hätte gedacht, dass es Kondome überhaupt noch gibt. Das war etwas für Puffgänger, ein Relikt der 50er-Jahre – und die sollte man nun nehmen! Stefan: Die Gefahr stand zwar im Raum, aber keiner konnte so richtig ihre Dimension einschätzen. Niemand wusste beispielsweise, was es eigentlich konkret bedeutet, wenn man HIV-positiv getestet ist. Es gab einfach noch zu wenig gesicherte Informationen. Als dann die Leute reihenweise starben, änderte sich das.
Die SIEGESSÄULE veröffentlichte über Jahre hinweg jeden Monat die aktuelle HIV/Aids-Statistik. Im Dezember 1985 waren in Berlin (West) 29 Todesfälle gemeldet. Bis heute sind es bundesweit über 28.000, allein in Berlin geschätzt 4.800. Habt ihr für euch schon mal gelistet, wie viele Freunde und Kollegen ihr durch Aids verloren habt? Matthias: Ich habe letzte Woche tatsächlich mal mit einer Namensliste angefangen und ganz schnell wieder aufgehört. Ich war schockiert. Bis zum Ende durchzuzählen, das halte ich nicht durch. Elmar: Ich denke, das geht uns allen so.
Wie verkraftet man, dass Menschen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis reihenweise sterben? Stefan: Ich konnte damit nicht umgehen. Ich musste das erst lernen, und bis ich es gelernt hatte, waren viele wichtige Leute bereits tot. Ich habe mich um sie gekümmert, saß an ihrem Krankenbett, keine Frage. Aber ich habe das Sterben verdrängt. Ich werde nie vergessen, wie mein Freund Joagnes im Auguste-Viktoria-Krankenhaus lag und der Arzt mir mit dem Zaunpfahl zu verstehen gab, dass Joagnes die Nacht nicht überleben wird. Ich wollte das nicht wahrhaben und habe ein Gespräch auf den nächsten Tag verschoben. Darüber komme ich bis heute nicht hinweg. Vielleicht hatte ich damals auch ein so großes Problem damit, weil ich selbst in heller Panik war. Ich habe zehn Jahre mit dem Virus gelebt, bis Aids bei mir ausbrach. Einige positive Freunde haben sich umgebracht, weil sie ihre Krankheit nicht mehr ertrugen. Es war eine bittere Schule. Matthias: Wo hätten wir denn auch lernen sollen, wie man damit umgeht? Man konnte zwei verschiedene Arten der Reaktion feststellen: Die einen sind ganz still und die anderen ganz laut geworden. Die Stillen wollten nicht wissen, was da passiert, oder sie brauchten die Stille, weil es ihnen zu viel geworden war. Und die Lauten unterteilten sich in die, die sich um die Positiven, die Kranken und um Aufklärung kümmerten, und die anderen, die die Öffentlichkeit suchten und die sozialpolitischen Folgen der Krankheit angehen wollten. Elmar: Die Krankheit zwang uns dazu, sich mit dem Sterben auseinanderzusetzen, und man sah sich immer häufiger bei Begräbnissen. Ich muss da an die Trauerfeier für Andreas Salmen denken ...
... der ACT UP Berlin mitbegründet und in der SIEGESSÄULE sehr viel zu Aids geschrieben hat. Elmar: Andreas, Ingo Taubhorn und ich wollen gerade zusammenziehen. Wir hatten uns bereits Wohnungen angeschaut – und dann plötzlich stirbt Andreas. Ich weiß noch sehr genau, wie ich damals zu Ingo sagte: „Es ist einfach nicht fair.“ Da waren diese ungeheure Wut und Trauer, furchtbar. Als mein Mitbewohner Dirk im Sterben lag, wurde er von seinen Eltern nach Hause geholt. Damit ich da ja nicht hinkomme, hat man mich erst nach der Beerdigung über seinen Tod benachrichtigt. Das war kein Einzelfall, solche Geschichten haben viele von uns erlebt. Karl-Heinz: Wir mussten nicht nur lernen, mit Abschied und Trauer umzugehen, sondern auch mit Ausgrenzung. Ich werde nie eine Trauerfeier vergessen, bei der der Pastor das schwule Umfeld des Verstorbenen mit den Worten hinauskomplimentierte: „Sie werden sicherlich verstehen, dass die Familie jetzt unter sich bleiben möchte.“ Matthias: Es gab aber auch andere Wege, mit alldem umzugehen, zum Beispiel den Gospelchor „Die Stimmen des Glücks“, eines der ersten schwul-lesbischen Projekte. Die selige Melitta Sundström hatte ihn geleitet. Jeden Sonntagnachmittag sind wir auf die Aidsstation ins AVK gefahren und haben da gegospelt. Ich glaube, wir haben grauslich schlecht gesungen, aber die Leute dort haben auf uns gewartet und es hat auch uns selbst geholfen. Denn es war eine Möglichkeit, den Freunden, solange sie noch lebten, eine Freude zu machen. Stefan: Es gab auch regelmäßig Tuntenshows auf der Aidsstation und für die Dauer der Vorstellung wurde das Rauchverbot knallhart ignoriert. Alle haben es geliebt, am allermeisten die Patienten: Mit der einen Hand hat man den Tropfständer festgehalten und mit der anderen die Fluppe. Es waren tolle Erlebnisse – aber ich hätte gerne auf sie verzichtet. 1996 lag ich dann selbst wochenlang auf der Intensivstation des AVK. Aber ich hatte Glück. Dass ich heute noch hier sitze, habe ich der Kombitherapie zu verdanken.
Durch die Kombinationstherapie, die den Ausbruch von Aids verhindert, ist HIV nicht mehr zwangsläufig eine tödliche Erkrankung. Elmar: Das hat maßgeblich zu einer Entdramatisierung von HIV und Aids beigetragen. Manchmal bin ich dann aber auch verwundert und denke: Spielt HIV eigentlich überhaupt keine Rolle mehr in den Köpfen? Matthias: Und doch haben Positive auch nach all den Jahren der Aufklärung immer noch berechtigte Angst vor einer Diskriminierung am Arbeitsplatz und in der Sexualität. Eigentlich denkt man, dass das Thema HIV gerade in der Schwulenszene ausdiskutiert sein müsste. Doch diese merkwürdig emotionalisierten Auseinandersetzungen aktuell zur PrEP zeigen, dass dem überhaupt nicht so ist.
Bei der Präexpositionsprophylaxe (PrEP) werden HIV-Medikamente vorbeugend als Schutz vor einer Ansteckung eingenommen. Matthias: Wenn man sich das mal bewusst macht: Gerade haben wir darüber geredet, dass man damals nicht einmal küssen durfte, und vor wenigen Tagen wurde gemeldet, dass es in voraussichtlich zwei Jahren eine PrEP-Spritze mit einem Zweimonatsschutz geben wird! Karl-Heinz: Ich finde ja eine andere Entwicklung, die ich bei meinen Vorortstudien beobachtet habe, viel spannender: Nämlich dass Leute lieber mit einem HIV-Positiven vögeln, der in Therapie und dadurch unter der Nachweisgrenze ist. Es gibt manche, die mit ihrem Nichtinfektionsstatus richtiggehend hausieren gehen. Es kann dir bei Sex also nichts mehr passieren – außer dass du Spaß dabei hast.
Die universelle und existenzielle Bedrohung durch das Virus ist, zumindest in der westlichen Welt, geschwunden; die Jahre der Panik, des massenhaften Sterbens sind Geschichte. Was ist von diesem ersten Jahrzehnt der Aids-Krise geblieben? Elmar: Als ich durch die „Homosexualität_en“-Ausstellung gegangen bin, habe ich schockiert festgestellt, dass Aids so gut wie keine Rolle spielt. Ich habe mich gefragt, wie es kommen konnte, dass den Ausstellungskuratoren und -kuratorinnen zu diesem Thema, welches das Leben der Schwulen in den letzten drei Jahrzehnten so einschneidend geprägt hat, überhaupt nichts eingefallen ist. Matthias: Mir ging es genauso. Denn wir müssen uns vergegenwärtigen: Unsere Infrastruktur, die Institutionen und ihre Professionalisierung, wie Medien über Homosexuelle berichten, wie wir über Sexualität denken und sprechen, die Genderstudies – all dies wäre ohne die Aids-Krise nicht denkbar gewesen, beziehungsweise die Entwicklung dahin hätte sehr viel länger gedauert.
Teilnehmer:
Peter Hedenström: Buchhändler und Mitbegründer des Buchladens Prinz Eisenherz wie auch der SIEGESSÄULE
Matthias Frings: Journalist, TV-Moderator und Schriftsteller
Stefan M. Weber: Der ehemalige Buchhändler bei Prinz Eisenherz und SIEGESSÄULE-Mitarbeiter genießt heute das Rentnerdasein
Karl-Heinz Albers: Mitbegründer der SIEGESSÄULE und seit vielen Jahren Mitarbeiter der Schwulenberatung Berlin
Elmar Kraushaar: Journalist und Schriftsteller, erster bezahlter Redakteur der SIEGESSÄULE und Koordinator der Aids-Sonderausgabe