„Der ertrunkene See“: Thomas Pregels grandioses Buch
Stilmittel sind unberechenbare Wesen. Meisterlich angewendet können sie neue Erlebnishorizonte eröffnen, wie sich an James Joyceʼ Klassiker „Ulysses“ zeigt. Doch wehe, man beherrscht sie nicht meisterlich. Dann spuken sie im Text herum wie garstige kleine Monster, welche die Lektüre sperrig und qualvoll machen. Thomas Pregel bedient sich in seinem neuen Roman „Der ertrunkene See“ gleich zwei solcher Stilmittel. Zum einen verzichtet er auf jedwede Form von direkter oder indirekter Rede. Zum anderen sind all seine Protagonisten entpersonalisiert und werden einzig durch ihre Funktionen und Eigenschaften gekennzeichnet. Dieses Mittel nennt man Antonomasie, und meist wird es nur sparsam in Texten verwendet, um etwas Abwechslung hineinzubringen, doch Pregel zieht es von der ersten bis zur letzten Seite durch. Ist eine Person also ein Ministerpräsident, dann bezeichnet er ihn auch durchgängig als den Ministerpräsidenten, den Journalisten als Journalisten und so weiter und so fort.
Eigennamen fehlen bei ihm völlig. Das geht einem anfangs tierisch auf den Sack. Der Text wirkt, als kaue man ein trockenes Stück Brot, und hat eher etwas von einem mit Adjektiven vollgestopften Tatsachenbericht als von einem lebendigen Roman. Aber es gibt etwas, was das von Seite zu Seite mehr herausreißt: die Geschichte, die er erzählt.
Im Mittelpunkt steht das Bucheichental, ein ursprünglicher, von Bergflanken umgebener Ort, in dem die Zeit stehen geblieben zu sein scheint. Die wenigen Menschen dort, bezeichnet als Südhirte, Schafhirte oder Fischer, leben allesamt von dem, was ihnen die Natur bereitstellt. Technik und Fortschritt sind bis auf wenige Ausnahmen, elektrisches Licht oder ein Radio, Fremdkörper in dem idyllischen Flecken Land. Es ist eine eingeschworene Gemeinschaft, für die Entspannung bedeutet, mit dem Nachbarn zu plauschen, bevor es zurück aufs Feld geht. Diese Ruhe wird jäh gestört, als die Bewohner die Nachricht erreicht, dass ihr Bucheichental sich wegen seiner Topografie hervorragend dafür eigne, einen Stausee daraus zu machen, um mit der Wasserkraft die große Stadt im Süden und ihre Wirtschaft dauerhaft mit Elektrizität zu versorgen. Deshalb müssten alle umgesiedelt werden. Ihr Tal, in dem sie gedachten zu sterben und begraben zu werden, wäre Geschichte.
Was Pregel aus dieser Ausgangssituation erzähltechnisch macht, ist grandios. Penibel erzählt er die verschiedenen Stadien des Protestes der Einwohner, die Rückschläge, die sie einstecken müssen, und wie sie sich berappeln, um erneut gegen die übermächtigen Gegner – die Regierung, die Wirtschaft – in den Ring zu steigen. Grandios ist es deshalb, weil von Anfang an die Aussichtslosigkeit des Protestes über ihren Köpfen schwebt. Die Geschichte von David gegen Goliath; nur ist hier kein Gott zur Stelle, um zu helfen. Wie in Zeitlupe führt einem Pregel einen Unfall mit tödlichem Ausgang vor. Das schmerzt und ist doch heilsam wahr: das Thema technischer Fortschritt versus Natur, und es wäre naiv, anzunehmen, die Natur würde gewinnen. Ob er, um diese Allegorie zu verdeutlichen, wirklich die beiden Stilmittel bemühen musste, bleibt fragwürdig. Pregel ist kein Erzähler vom Rang eines Joyce, aber das ist nicht mal Thomas Pynchon, den man am ehesten in Joyceʼ Fußstapfen wandeln sieht. Doch rettet ihn die fesselnde Geschichte, und zu Recht wurde sein Buch für die Hotlist 2015 der besten Bücher aus unabhängigen Verlagen nominiert, die im
Oktober gekürt werden.
Roberto Manteufel
Thomas Pregel: „Der ertrunkene See“, Größenwahn Verlag, 300 Seiten, 23,90 Euro