„Die Menschen sind um ihr Leben gerannt“
Am 30.07. stach ein Mann mit einem Messer auf TeilnehmerInnen des Jerusalem Pride ein. Bei dem Angriff gab es mehrere Verletzte und eine Tote. SIEGESSÄULE.DE hat mit einem Augenzeugen gesprochen
Yuval Ben-Ami lebt in Tel Aviv und definiert sich als Crossdresser. Er nahm am Jerusalem Pride teil – und wurde dann Augenzeuge der brutalen Messer-Attacke, bei der ein 40-jähriger ultraorthodoxer Gläubiger sechs Menschen teilweise schwer verletzte. SIEGESSÄULE-Autor Daniel Segal hat per Telefon mit Yuval über den Vorfall gesprochen.
Update! 03.08. Eines der sechs Opfer, die 16-jährige Shira Banki, erlag am Sonntag ihren schweren Verletzungen, teilte das Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem mit. Das Mädchen schwebte seit dem Angriff am Donnerstag in Lebensgefahr. An mehreren Orten in Israel versammelten sich gestern Abend Trauernde, um der Toten zu gedenken.
Yuval, du bist am Donnerstag von Tel Aviv aus aufgebrochen, um wie rund 5000 andere Menschen an dem Jerusalem Pride teilzunehmen … Genau, denn man muss wissen, dass die LGBT-Community in Tel Aviv sehr lebendig ist und weitgehend akzeptiert wird. Der Pride hier gleicht deshalb auch eher einer großen Party. Die Community in Jerusalem hat da mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. Viele kommen aus extrem konservativen Familien. Der Pride ist deswegen sehr viel politischer als in Tel Aviv und für mich ist es wichtig, dort Präsenz zu zeigen.
Aus dem Nichts heraus hat ein Mann wahllos auf die Demonstranten und Demonstrantinnen eingestochen und dabei sechs Menschen verletzt. Was hast du beobachtet? Das Ganze spielte sich direkt vor meinen Augen ab. Es kam zu einer riesigen Aufruhr, die Menschen haben geschrien und sind um ihr Leben gerannt. Die Opfer lagen auf dem Boden, überall war Blut. Ziemlich schnell kamen dann Rettungswagen und die Polizei. Schlimm daran ist auch, dass eine solche Tat nicht wirklich überrascht. In Jerusalem kommt es immer wieder zu gewalttätigen Vorfällen. Israel ist kein einfaches Land.
Was passierte, nachdem der Täter festgenommen wurde? Zunächst sagte die Polizei, dass wir schnell zurückgehen und den Ort des Geschehens verlassen sollen. Dann hieß es plötzlich „Geht weiter“. Wir setzten den Marsch also fort und nachdem schließlich beschlossen wurde, dass der Pride nicht aufgelöst wird, haben sich alle am Endpunkt der Demonstration versammelt.
Wie war die Stimmung dort? Alle redeten wild durcheinander, waren sehr verunsichert, denn noch wusste niemand, wie viele Menschen verletzt worden waren oder ob es sogar Todesopfer gibt. Dann stellte sich heraus, dass es sich bei dem Täter um den gleichen Mann handelte, der vor zehn Jahren schon einmal den Jerusalem Pride attackiert hatte und der erst vor wenigen Wochen aus der Haft entlassen wurde. Außerdem war schnell klar, dass es sich bei dem Mann um einen Ultraorthodoxen handelt, eine Information, die ich als sehr wichtig empfand.
Warum? Ich verurteile jede hasserfüllte Diskussion zwischen Communities, egal, ob es sich dabei um queere oder eben religiöse Themen handelt. Und obwohl die Atmosphäre auf dem Pride dann wieder entspannter wurde und wir uns sicher fühlten, habe ich beschlossen, mich aus der Menge raus zu bewegen und mit Menschen in Jerusalem zu sprechen. Es war mir einfach wichtig zu überprüfen, ob die Menschen in dieser Stadt gegen mich sind oder eben nicht.
Wie hast du das „überprüft"? Ich bin mit meiner Freundin in eines der ultraorthodoxen Stadtviertel Jerusalems gegangen und das Schöne ist: Egal, ob die Menschen mich als Frau oder als Mann oder was auch immer wahrnahmen – ich wurde von allen akzeptiert. Später kam ich dann an einem ultraorthodoxen Straßenmusiker vorbei, der gemeinsam mit mir und anderen Queers ein jüdisches Friedenslied anstimmte. Alle kamen zusammen und auch sehr religiöse Menschen sagten mir, dass es ihnen sehr leid tue, was auf dem Pride passiert ist. Das war ein sehr rührender Moment.
Warum war das so wichtig für dich? Für mich wurde in diesem Moment einfach klar, dass per se keine Community in Israel hasserfüllt und gewaltbereit ist. Es sind einzelne Menschen, mit denen wir es zu tun haben. Die wiederum holen sich ihre ideologische Legitimation für ihre Taten von oben, wenn etwa im Parlament mal wieder eine Hass-Rede gehalten wird.
Was sollte jetzt geschehen? Ich denke wir müssen uns Gedanken machen, wie es passieren konnte, dass dieser Mann, der gerade erst aus der Haft entlassen worden war, diese Tat ausüben konnte. Meiner Meinung nach wäre es die Aufgabe der Polizei gewesen, genau zu prüfen, wo er sich während des Prides aufhält. Man hätte die Attacke verhindern können und als Fazit bleibt deshalb leider auch, dass die Behörden nicht genug getan haben.
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