Über Liebe und Unabhängigkeit
Seit mehr als zehn Jahren spielt Regina Lemnitz im Musical „Cabaret“ die Zimmervemieterin Fräulein Schneider
Seit 2004 läuft Vincent Patersons Erfolgsinszenierung von „Cabaret“ jedes Jahr für einige Wochen – ursprünglich in der Bar jeder Vernunft, seit 2010 im Schwesterzelt Tipi. Ganz in dessen Nähe hat der Schriftsteller Christopher Isherwood, auf dessen Texten das Stück beruht, während seiner Berliner Zeit gewohnt: als Untermieter bei Magnus Hirschfelds Schwester, die sicher Einfluss hatte auf die Figur des Fräulein Schneider. Regina Lemnitz spielt die resolute Wirtin. Mit SIEGESSÄULE-Chefredakteurin Christina Reinthal sprach die vielseitige Schauspielerin über ihren persönlichen Bezug zu dem Berlin-Musical schlechthin
Es ist Sommer und Cabaret ist zurück im Tipi, wie fühlt es sich an, jedes Jahr wieder zurückzukommen? Es ist immer wieder schön, das Tipi hat ja nun wirklich eine Traumlage und ich freue mich mitten im Grünen zu arbeiten. Früher habe ich ja in Repertoirehäusern gearbeitet. Das bedeutete, dass ich jeden Tag eine andere Vorstellung hatte. Als ich dann irgendwann zum ersten Mal ensuite gespielt habe, dachte ich, das würde ich gar nicht aushalten, jeden Abend dasselbe zu spielen. Komischerweise ist das überhaupt nicht so: Das Publikum ist anders, man selber ist jeden Abend in einer anderen Verfassung. Wenn man an einem Abend irgendwas erreicht hat, versucht man, das gleich wieder zu erreichen oder noch besser zu machen oder eben einen anderen Weg zu gehen. Es ist so spannend.
Was bedeutet das Stück für Sie? Ich bin ja geborene Berlinerin und dazu auch Nachkriegskind, ich habe also viel erfahren, was in „Cabaret“ auch eine Rolle spielt. Antisemitismus gehört auch dazu. Und das Traurige ist ja, dass es immer noch ganz aktuell ist. Überall vor den jüdischen Kitas, Schulen und Altenheimen steht die Polizei. Meine Rolle, Fräulein Schneider, ist nicht jüdisch, sondern der Mann, in den sie sich verliebt. Und dann muss sie erkennen: Der Mann ist so gefährdet, das hält sie nicht aus. Außerdem kann sie nicht riskieren, ihren Gewerbeschein zu verlieren, sie muss weiter ihre Zimmer vermieten um überleben zu können. Diese schwierige Entscheidung jeden Abend durchzuspielen, berührt mich sehr.
„Cabaret“ wird in Deutschland oft gespielt, Sie waren in einigen Inszenierungen auch dabei. Diese hier am Tipi von Vincent Paterson hat einen besonderen Zauber. Ja, das stimmt. Oft ist das Ganze ja viel glitzernder, schicker. Bei uns geht es mehr um die Menschen. Das gefällt mir. Vincent Paterson ist ein großartiger Regisseur. Er hat eine solche Ausstrahlung, von der sich jeder eingebunden und getragen fühlt. Das hat die Inszenierung über all die Jahre gehalten. Außerdem ist er ein toller Choreograf, hat mit Madonna und Michael Jackson gearbeitet. Was er den KitKats auf den Leib choreografiert hat finde ich überwältigend.
Sie sind ja sehr vielseitig, haben viel Theater gespielt, auch Musicals gemacht, Operette, Fernsehen und auch Synchronarbeit. Wie bekommen sie das unter einen Hut? Das fällt mir nicht schwer. Ich finde es schön, dass mein Beruf so abwechslungsreich ist.
Was ist ihnen das Liebste dabei? Die Bühne! Die Bühne, die Bühne, die Bühne und dann kommt lange, lange gar nichts. Und das schönste ist dann natürlich, wenn ich dabei singen kann. Die klassischen Operetten wie „Pariser Leben" und „La Périchole“ von Jacques Offenbach haben mir Spaß gemacht. Wenn in einem Schauspiel Gesang dabei ist, wie auch in „Die letzte Kommune“, dem Stück, das ich im Grips-Theater spiele, dann ist das besonders schön. Also, die Bühne ist das schönste.
Sie synchronisieren aber auch sehr viel. Wer ihre Stimme hört, denkt sofort „Die kenne ich irgendwoher“ oder hat gleich Whoopi Goldberg, Roseanne oder Kathy Bates vor Augen. Ja, vor allem bei Roseanne war das ganz stark, als die Serie täglich im Fernsehen lief. Früher sah ich ihr auch ein bisschen ähnlich, da hatte ich längere dunkle Haare und war auch einige Zeit sehr viel dicker.
Stört es oder ist es schön, dass die Stimme erkannt wird und ein anderes Gesicht dazu im Kopf ist. Nein, es stört mich nicht. Das ist ja auch mein Beruf und ich freue mich, dass meine Stimme so markant ist und so schnell wiedererkannt wird. Es stört mich nur dann, wenn die Menschen mich ausschließlich auf meine Synchronstimme ansprechen, dann betone ich gerne, dass ich auch selber auf der Bühne stehe. Aber ich mach es gerne, es sind ja einfach auch tolle Leute.
Allerdings! Vor allem sind das ja Frauen, die große Stars wurden, ohne sich einem Schöheitsideal oder sonst an irgendwas anzupassen. Gefällt Ihnen das? Ja, natürlich! Gerade bei Kathy Bates. Als ich anfing, sie zu synchronisieren, hatte ich in der Nacht davor noch die Oscar-Verleihung gesehen. Da kam also Kathy Bates, eine Frau mittleren Alters, sehr statiös und die bekam einen Oscar. Und ich dachte: „Was, die Amerikaner trauen sich das?“ Als ich am nächsten Tag ins Synchronstudio kam, war sie es, die ich sprechen sollte. Das war eine große Freude.
Ihre Rolle in „Cabaret“ passt ein bisschen in dieses Muster. Sie ist nicht die hübsche Hauptfigur Sally Bowles, sondern älter und auch stiller aber vor allem ist sie eine sehr emanzipierte Frau. Ja, sie ist vollkommen unabhängig. Sie sagt: „Ich brauche meinen Gewerbeschein.“ Ihre Unabhängigkeit ist stärker als die Liebe. Meine Aufgabe ist es, diese große emotionale Kurve auf der Bühne mitzutragen: von dieser erst sehr resoluten Frau, über die Entstehung der Liebe, zu dem Entschluss, diese aufzugeben und ihr eigenes Leben weiterzumachen. Ohne Hoffnung dann, aber ihr eigenes Leben. Das finde ich eine sehr besondere Geschichte.
Also wird es auch nächstes Jahr wieder „Cabaret“ mit Ihnen als Fräulein Schneider geben? Ich denke schon und würde mich freuen. Ich bin dieser Rolle auf gar keinen Fall überdrüssig.
Interview: Christina Reinthal
SIEGESSÄULE präsentiert: Cabaret, bis 20.09., Di–Sa 20:00, So 19:00, Tipi
Folge uns auf Instagram