Marcus Brühl
Am 13. Mai wurde der Lyriker und Autor Marcus Brühl tot in seiner Wohnung aufgefunden
Sein Freund fand ihn in seiner Wohnung in der Spandauer Straße: Marcus Brühl lag mit einer Kopfverletzung am Boden. Fünf Wochen zuvor hatte er erstmals einen epileptischen Anfall bekommen, wenige Tage darauf einen zweiten, wonach er mit Wirbelfrakturen ins Krankenhaus eingeliefert wurde. Er schrieb mir einen Tag vor seinem Tod: „Vor allem ist blöd, dass diese Synkopen keine erforschten Ursachen haben und immer wieder kommen können. In Sekundenschnelle habe ich kein Gefühl in den Beinen, merke, dass der Boden näher kommt, und dann bin ich bewusstlos.“ Die Todesursache wurde noch nicht festgestellt. Die Beisetzung wird im Kreis der Familie in Siegen stattfinden.
Die meisten Leser werden Marcus durch seinen Roman „Henningstadt“ kennengelernt haben. „Henningstadt“ war 2001 ein ganz neuartiger Coming-out-Roman, denn der junge Held muss nicht mehr gegen Diskriminierung und eine intolerante Umwelt kämpfen. Stattdessen steht Henning vor der riesengroßen Frage, wie man als junger Schwuler sein Leben lebt.
Dem Roman „Henningstadt“ stellte Marcus als Motto ein Zitat von Johannes Bobrowski voran, dem ostdeutschen Dichter, über dessen Werk er seine Magisterarbeit als Germanist verfasst hatte:
„Ich gewöhn mich ins Glück,
ich sage, es ist ganz leicht“
Vierzehn Jahre später, einen Tag vor seinem Tod, schickte er mir dieses eigene Gedicht:
„wie tunke ich
den tag
ins glück
wenn alle nur
mit löffeln essen“
Sein Leben lang fiel es Marcus nicht leicht, die Frage nach dem Glück zu beantworten. Das ist wirklich erstaunlich, wenn man bedenkt, wie in jeder Hinsicht erfolgreich er in sein Leben gestartet ist: Schon mit seinem ersten Roman verdient er richtiges Geld, es gibt eine Taschenbuchausgabe und es wird sogar eine Option auf die Filmrechte verkauft. Er sieht verdammt gut aus und ist so charmant, dass ihm jeder, dem er begegnet, sofort zu Füßen liegt. Von außen betrachtet war er ein Glückskind, wie es im Buche steht, aber irgendetwas muss ihm die Welt vorenthalten haben, anscheinend gerade das, was ihm am wichtigsten war. Deshalb war all das Gute nichts wert, die Klugheit, das erfolgreiche Debut, die vielen Freunde. Er veröffentlichte in sechs Jahren vier Bücher, dann hörte er einfach auf; fünf Jahre später folgte als letzte Veröffentlichung noch ein kleiner Gedichtband, der ihm sehr am Herzen lag. Eine zeitlang ging er verschiedenen Jobs nach, dann lebte er von Arbeitslosengeld II; in den letzten Jahren unterrichtete er Deutsch als Fremdsprache.
Marcus Brühl war ein richtiger, ganz altmodischer Dichter, auch wenn seine Gedichte alles andere als altmodisch waren. Er konnte sich regelrecht in Büchern und Texten vergraben; ich weiß noch, dass er in seinen Wohnungen immer eine selbst gebaute Brettkonstruktion anbrachte, auf der er einzelne maschinengeschriebene Seiten auslegte, so dass er sie jederzeit vor Augen hatte. Deshalb ist es wohl erlaubt, wenn ich diesen Nachruf mit einem Literaturhinweis beende: schon seit langem erinnerte mich Marcus Brühl an die Titelfigur des Romans „Idolino“. Ernst Penzoldt geht in diesem Buch der Frage nach, wie es sein kann, dass ein Glückskind im Leben nicht glücklich wird. Marcus Brühl war ein hinreißender Mensch, und er war ein großes Rätsel.
Joachim Bartholomae ist einer der Verleger des Männerschwarm Verlags, in dem viele von Marcus Brühls Texten veröffentlicht wurden
Veröffentlichungen:
Henningstadt (Roman), 2001
Lars (Erzählungen), 2003
Atemlicht Geräuschlos (Gedichte), 1999
Spielzeug (Gedichte), 2006
Sowie unter dem Pseudonym „Penelope“:
Lebensansichten einer gepflegten Tunte. Ein praktischer Leitfaden, 1997
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