Queeres Disneyland
Wie hat sich Berlin seit dem 9. November 1989 verändert? Wie wird die Geschichte heute in dieser Stadt rezipiert? Diesen Fragen gehen Expertinnen und Experten aus der Community nach
Am 9. November 1989 brach für ganz Deutschland, aber vor allem für Berlin eine neue Epoche an. Mit dem Mauerfall verschwanden an der Spree gleich zwei Städte auf einmal: die „Insel der Glückseligen“, West-Berlin, und Ost-Berlin, die Hauptstadt der DDR. Eine neue, vereinte Metropole entstand, heute Anziehungspunkt und Sehnsuchtsort für (queere) Touris aus aller Welt. Wie haben Schwule und Lesben die Wende erlebt? Wie beurteilen Berlinerinnen und Berliner die Veränderungen, die die Stadt seit diesem denkwürdigen Ereignis durchlaufen hat? Wie eng sind Ost- und West-Community mittlerweile zusammengewachsen? Und wie fällt das Fazit aus: Sind 25 Jahre Mauerfall wirklich in jeder Hinsicht ein Grund zu feiern? SIEGESSÄULE-Autor Carsten Bauhaus und Chefredakteur Jan Noll baten Expertinnen und Experten an den runden Tisch
Fangen wir mal ganz am Anfang an: Gab es bei der schwul-lesbischen Emanzipationsbewegung in den frühen 70ern einen politischen Austausch zwischen der Homosexuellen Aktion West-Berlin und dem östlichen Pendant, der Homosexuellen Initiative Berlin? Peter Rausch: Die HAW kam rüber in den Osten und hat uns ihre Grundsatzerklärung übergeben. Wir haben dann ein Jahr darüber geredet. Am 15. Januar 1973 haben wir bei mir in meiner Wohnung im Westfernsehen Praunheims „Nicht der Homosexuelle ist pervers …“ angeschaut. Und das war dann auch die Initialzündung für die HIB.
Die Bewegung im Westen hatte ja einen starken linken, geradezu utopischen Einschlag. Wie hat man darüber im real existierenden Sozialismus gedacht? Peter: Wir fühlten uns als Verbündete. Die wollten im Westen Fortschritt, wir im Osten: aus dem Hetero-Sozialismus sollte quasi ein Bi-Sozialismus werden. Insofern passten die linken Westaktivisten zu uns.
Manuela, du bist gebürtige West-Berlinerin. Wie habt ihr den Osten wahrgenommen? Manuela Kay: Schwul oder lesbisch zu sein hieß in West-Berlin anders als heute auch automatisch, rebellisch, anarchisch und links zu sein. Völlig naiv dachte man, das müsste ja irgendwie mit der DDR kompatibel sein. Nach Besuchen im Osten war man dann allerdings von der Realität völlig desillusioniert. Links bedeutete in der DDR etwas ganz anderes, vor allem Institutionalisierung und ideologischer Überbau. Das ging für uns natürlich gar nicht.
Und wie hat man Westbesuche im Osten gesehen? Frank Schäfer: Im Burgfrieden waren Leute aus dem Westen so was wie Stars. Matthias Freihof: Wir haben oft eine Dreiviertelstunde vor der Schoppenstube angestanden. Und Wessis wedelten dann von ganz hinten mit dem D-Mark-Schein und sind durchgewunken worden. Der Türsteher war natürlich scharf auf die Westkohle.
Welche Rolle spielten Homo-Gruppen der DDR bei der friedlichen Revolution? Klaus: Keine spezifische. Anders als heute, wo lesbisch oder schwul für viele einen zentralen Aspekt der Identität ausmacht, war das in der DDR nur ein Moment von vielen. Sexualität hatte einerseits einen großen Stellenwert, aber andererseits auch einen vergleichsweise geringen, in dem Sinne, dass es kein abendfüllendes Thema war, nichts, woran man sich unmittelbar gegenüber allen anderen definiert hätte. Matthias: Das ist ein sehr wichtiger Punkt: Bei der Vorstellung von „Coming Out“ auf der Berlinale haben viele versucht mich zur Galionsfigur zu machen. Ich habe immer gedacht: Was haben die für ein Problem? Ich bin doch kein Berufsschwuler. Es kam auch Kritik von westlicher Seite, dass das Dargestellte etwas angestaubt sei. Aber ich habe nur geantwortet: Wo seid ihr denn bitte schön weiter? Manuela: Ich habe das Matthias auch ein bisschen übel genommen, dass er sich nicht an die Front gestellt hat. Für uns im Westen war das Thema nämlich schon abendfüllend, zumindest in den 80ern. Schwul oder lesbisch zu sein war ganz klar ein Auftrag, die Welt aus anderen Augen zu sehen und aus dem Minderheitenstatus heraus die ganze Gesellschaft und das System infrage zu stellen.
Matthias, der Mauerfall platzte mitten in die Premiere deines Films „Coming Out“. Hat dir das deinen großen Abend versemmelt? Matthias: Überhaupt nicht. In der öffentlichen Wahrnehmung ist der Film dadurch nicht untergegangen. Auch weil er perfekt zum Mauerfall passte: Die gesamte DDR brauchte ja ein Coming-out. Außerdem ist der Film ein wichtiges Zeitdokument über das Lebensgefühl in Ost-Berlin Ende der 80er-Jahre.
Wie waren eure ersten Erfahrungen in der West-Berliner Szene? Peter: Ich dachte, es würde jetzt richtig schweinisch. Aber es wurde auch nicht schweinischer. Alles strömte erst einmal nach Westen, um zu gucken, ob das Leben dort auch lustig war. Frank: Man konnte früher im Osten exzessiver und wilder feiern. Im Westen hat man immer die Form gewahrt, selbst wenn man gekotzt hat.
Wie reagierte die West-Berliner Szene auf die neue Situation? Manuela: Es kam Frischfleisch und das war erst mal gut! Alle Läden und Homo-Partys waren total überfüllt mit Ossis. Die durften oft in Ost-Mark bezahlen, sodass dann alle Wessis in Ost-Geld schwammen. Ich hab mich in Ost-Berlin immer wohler gefühlt als in Westdeutschland. Das war ja schließlich auch unsere Stadt. Es war toll, die Leute aus Berlin zu treffen, die man sonst nicht getroffen hat. Die Ost-Lesben waren viel direkter und sind richtig rangegangen. Das hat Spaß gemacht.
Das ganze Gespräch gibt es in der aktuellen Ausgabe der Siegessäule, auch online nachzulesen hier
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