„Freiheit und Schmerz“

Ein Jahr Ukraine-Krieg: Wie geht es queeren Geflüchteten in Berlin?

17. Feb. 2023 Muri Darida
Bild: Sally B
Svetlana Shaytanova (Foto, oben li.), Kirill Kazakov (unten) und Loki van Dorn (oben re.)

Im Februar vor einem Jahr begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Um die 100.000 Menschen sind seitdem nach Berlin geflohen, unter ihnen viele Queers. Doch wie geht es ihnen heute, ein Jahr nach Kriegsbeginn? Welche Ängste, Wünsche und Forderungen an die deutsche Politik und Gesellschaft haben sie? SIEGESSÄULE hat mit zwei von ihnen gesprochen

Am 23. Feburar 2022 saß Kirill Kazakov im Auto auf dem Weg von der Ukraine nach Russland, um seinen Yoga-Mentor in Moskau zu besuchen. „Auf der Gegenfahrbahn fuhren Panzer”, erinnert er sich. „Je näher wir Moskau kamen, desto mehr wurden sie. Überall Tanks, Tanks, Tanks.” Um 1 Uhr fuhr er über die Grenze. Drei Stunden später begann der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Am frühen Morgen erreichte Kirill Moskau. „Der Krieg fängt an”, schrieb Kirill seinen Freund*innen auf Facebook. „Seit diesem Moment spüre ich eine Erschütterung in meinem Körper, die bis heute geblieben ist”, sagt er im Gespräch mit SIEGESSÄULE. Kirill ist schmal, trägt die Haare im Nacken zusammengebunden und Yogapants. „Ich habe mich nie in meinem Leben älter gefühlt als jetzt, ich erkenne mein Gesicht im Spiegel nicht.” Nachts schlafe er maximal drei bis vier Stunden am Stück. Ein Fortschritt, verglichen mit seinem Schlafpensum zu Kriegsbeginn vor einem Jahr.

Kirill ist einer von rund 100.000 Menschen aus der Ukraine, die wegen des Krieges nach Berlin geflüchtet sind. Von Moskau aus reiste er im März 2022 weiter nach Kaliningrad, überquerte die Grenze nach Polen und kam von dort nach Deutschland. Kirill ist Yogalehrer, Journalist und Regisseur aus Kyjiw. Erst jetzt, in Berlin mit 44 Jahren, lebt er zum ersten Mal offen als schwuler Mann. „In der Ukraine habe ich mich nie als Teil einer Community gesehen”, sagt er. „Ich habe mit niemandem darüber gesprochen, dass ich schwul bin.“ Seine Beziehung führte er heimlich. Der Grund war sein Beruf. „Als professioneller Journalist war es undenkbar, mich als schwul zu outen.“

Seine ersten Anlaufstellen seien Beratungsstellen wie Quarteera und die Schwulenberatung gewesen. „Als ich in Berlin angekommen bin, habe ich mein Leben als schwuler Mann begonnen”, sagt Kirill. „Das ist keine einfache Erfahrung, sie ist voller Freiheit und Schmerz.“ Und dazu kommen dann noch Briefe vom Jobcenter. „Ich versuche irgendwie, dieses System zu verstehen, aber ich bekomme jeden Monat so viele Dokumente, die ich einfach kaum verstehe und die mich unter Druck setzen.“

Hilfsstrukturen und Selbstermächtigung

Wie Kirill geht es laut Svetlana Shaytanova vielen queeren Geflüchteten in Berlin. Sie ist Projektkoordinatorin bei Quarteera, einem Verein, der Queers mit Vernetzungs- und Beratungsangeboten sowie Aufklärungsarbeit auf Russisch deutschlandweit supportet. Quarteera unterstützt auch Angekommene aus der Ukraine: „Wir helfen mit psychologischer, psychosozialer und juristischer Beratung und auch dabei, einen Platz in der Gesellschaft zu finden”, sagt Shaytanova. Manche würden hier mehr Freiheit erleben, sogar bleiben wollen, sich organisieren. Doch die meisten kämpften mit Bürokratie, Wohnungsnot und damit, legal Geld verdienen zu können, ohne Anspruch auf Sozialleistungen zu verlieren. „Gerade queere Menschen außerhalb Berlins streben nach Community und Safe Spaces“, sagt sie.

Quarteera bietet aus diesem Grund Workshops und Vernetzungstreffen für queere Geflüchtete aus der Ukraine an. „Ich beobachte auch einen wachsenden Wunsch nach Gewissheit und Selbstständigkeit”, sagt Shaytanova. „Wir reden hier über erwachsene Personen in einem fremden Land, die schon seit einem Jahr von anderen Menschen abhängen.” Viele sehnten sich nach aktivistischer, politischer und gesellschaftlicher Arbeit. „Die Menschen wollen eigene Projekte durchführen, eigene Vereine gründen.“

„Wir wollen Ukrainisch sprechen und wir wollen laut über unsere Anliegen reden.”

Auch Loki van Dorn organisiert sich. Loki van Dorn ist ein*e trans und nicht binäre*r Künstler*in, Model und Schauspieler*in aus Dnipro. Beim Zoom-Gespräch sitzt eine rote Katze auf Lokis Schoß. Sobald Loki aufhört zu streicheln, tippt Bari – die Katze – Loki mit der Pfote an. Mit anderen queeren Aktivist*innen hat Loki die Initiative KwitneQueer ins Leben gerufen. „Kwitne bedeutet blühend”, sagt Loki. „Wir möchten uns von russischen Gruppen abgrenzen, eine hauptsächlich ukrainische queere Community bilden und uns gegenseitig unterstützen. Wir wollen Ukrainisch sprechen und wir wollen laut über unsere Anliegen reden.” Das bedeutet konkret: über Papiere, Hormone, Unterkünfte und medizinische Versorgung. „Es gibt so viele Personen, die mit heteronormativen Menschen in Unterkünften wohnen müssen”, sagt Loki. „Das ist nicht sicher und bedeutet eine doppelte Belastung.“

Ein weiteres Ziel von KwitneQueer sei, Ukrainer*innen in die deutsche Gesellschaft zu integrieren und sie bei der Ausbildung und Arbeitssuche zu unterstützen.“ Loki möchte längerfristig in Berlin bleiben. Berlin passe zu Loki. „Die Stadt ist so chaotisch wie ich”, sagt Loki. Trotzdem hat Loki Sehnsucht. Nach der Mutter, die in Dnipro geblieben ist und der zweiten Katze, die zu krank war, um sie mit nach Deutschland zu nehmen. „Ich habe dauerhaft Angst, dass ich aus den Nachrichten mitbekomme, dass meinen Freund*innen oder meiner Familie etwas passiert ist.” Mit der Mutter telefoniert Loki jeden Tag. Aber Loki möchte bleiben. „Ich genieße mein Leben hier und kämpfe nicht jeden Tag gegen normative Vorstellungen.“

Kirill hingegen hat häufiger Gedanken daran, zurückzukehren. „Ich habe die Ukraine mit einer kleinen Reisetasche verlassen”, sagt er. „In Kyjiw sind meine Wohnung, mein Studio, meine Sachen, meine Bücher.” Seinen Partner konnte er vor drei Monaten nach Berlin holen. Als Journalist hätte er bereits vor dem Krieg und der Flucht gelernt, in extrem stressigen Situationen zu funktionieren.

„Im vergangenen Jahr habe ich über mich selbst verstanden, dass ich ein extrem hohes Level an Ressourcen und Empathie habe, um anderen Menschen zu helfen“, erzählt Kirill. Und das ist auch sein Umgang mit der Situation. Er unterrichtet Yoga für traumatisierte Personen, unterstützt andere Geflüchtete als Dolmetscher, engagiert sich freiwillig.

Große Träume habe er nicht mehr. „Ich bin Regisseur für Dokumentationen und möchte in diesem Beruf auch wieder arbeiten.“ Ansonsten sehne er sich vor allem nach „Balance“, Vorhersehbarkeit, danach, keine häufigen Wohnungswechsel durchmachen zu müssen. Der deutschen Politik und Bevölkerung gegenüber sei er dankbar.

„Ich bin immer noch komplett baff über die ausbleibende Reaktion der Welt darauf, dass kleine Kinder von russischen Bomben zerrissen werden.”

Auch Loki spricht immer wieder von Dankbarkeit den Menschen gegenüber, die unterstützend waren. Aber Loki ist auch wütend. „Ich bin immer noch komplett baff über die ausbleibende Reaktion der Welt darauf, dass kleine Kinder von russischen Bomben zerrissen werden”, sagt Loki. „Ich dachte, dass die ganzen Dokumente, die nach dem Zweiten Weltkrieg unterschrieben wurden, etwas bedeuten und die europäischen Staaten einander unterstützen würden.“

Auch an die deutsche Politik hat Loki Forderungen, als ukrainische und als trans Person. „Es sollte wirklich einfacher sein, Namen und Papiere zu ändern, auch für Migrant*innen“, sagt Loki. „Außerdem sollte es universalere Wege geben, eine Person anzusprechen, als dieses Herr und Frau – das jagt mir jedes Mal einen kleinen Schauer über die Haut.”

Aber Loki hat in Berlin auch Freund*innen gefunden, Verständnis, Halt. Und Ärzt*innen, die weiter die Hormone verschreiben. „Ich bin freier in meinem Körper, habe weniger Druck, binär männlich auszusehen. Ich glaube nicht mehr, dass so viel falsch ist mit mir.“ Was sich noch verändert hat in den vergangenen zwölf Monaten? „Ich bin erwachsen geworden, konzentriere mich auf das Wesentliche. Und ich bin viel häufiger krank.”

Anlaufstelle für russischsprachige Queers in Berlin: quarteera.de

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